Myli-Schlucht Rethymno
Die Nacht war wieder stürmisch. Und kühl. Ich hätte so etwas nie erwartet, aber mein dünner Sommerschlafsack, der in Griechenland normalerweise viel zu warm ist, reicht eigentlich nicht. Nun, er muss reichen, denn etwas anderes habe ich nicht. Ich kaufe hier sicher keinen neuen.
Trotz des abebbenden Sturmes konnte ich kein Yoga am Strand machen, dazu war es dann doch zu windig. Hier, auf dem Campingplatz, war ich relativ gut geschützt, die hohen Bambusstangen geben Schatten und dienen als Windbrecher. Auch wenn sie natürlich Kühle abstrahlen, was in normalen Sommern hier natürlich ein Segen ist. Aber ich will mich nicht beschweren.
Also machte ich eine 30 Minuten-Session in der Nähe des Zeltes, auf einem abgelegenen Teil des Platzes, wo mich niemand sehen konnte. Das ist mir noch immer wichtig, schließlich wackelt alles doch ziemlich. Was allerdings eine fliegende oder schwebende Taube sein soll und wie man so etwas halten kann, ist mir ein Rätsel. Das muss ich mal zu Hause probieren, wo ich zur Not erste Hilfe erhalten kann. (Ergänzung: Sie ist gar nicht so schwer, ich habe sie gerade auf dem Campingplatz probiert. Sie ähnelt der Krähe, die ich relativ oft praktiziere. Ich brauchte nur etwas Geduld, um sie zu üben.)
Also ging es gemächlich los.
Erst gegen sieben war ich aufgestanden, um halb Neun fertig mit Yoga. Eine ziemliche Trödelei. Aber so viel hatte ich heute nicht vor.
Gegen halb zehn machte ich mich auf den Weg, erst zu einem Bäcker, den es wirklich an jeder Straßenecke hier gibt, dann zu meinem Ziel, der Myli-Schlucht. Es war kein weiter Weg, ca. drei Kilometer vom Campingplatz entfernt. Aber wieder ging es nach oben, wieder schob ich den letzten Kilometer, obwohl ich den Eindruck habe, dass ich die Steigung mit dem Rad dieses Mal länger und besser bewältigt habe. Kann auch daran liegen, dass die Straße weniger befahren war.
Es dauerte wirklich nur ein paar Minuten, bis ich, einem Dirttrack folgend, das erste Hinweisschild erreichte. Ich sollte meine Wanderung am unteren Ende der Schlucht beginnen, beim Banana Café. Die Bananenpflanzen, die der Taverne ihren Namen geben, konnte ich schon von oben bewundern. So also begann die Wanderung. Ich schloss das Fahrrad an einen rostigen Stab, dann ging es los.
Der Anfang sieht relativ unspektakulär aus. Vorbei ging es an einer der Mühlen, nach denen dieses Tal benannt ist. Früher, also bis ins 20. Jahrhundert hinein, wurde hier von Dutzenden Mühlen Mehl hergestellt, das die ganze Region versorgen konnte. Besonders die Osmanen haben dieses Tal dafür intensiv genutzt. Die meisten Mühlen sind inzwischen verfallen. Aber Ruinen haben ja auch etwas.
Immer tiefer folgte ich dem Fluss in eine Art Dickicht hinein. Der Weg wurde bald ziemlich anspruchsvoll, aber ich war mit meinen Trekkingsandalen noch gut unterwegs. Wildromantisch, so würde ich diese Wanderung bezeichnen, bei der man auch ziemlich gutes Schuhwerk braucht. Meine Wanderschuhe wären besser geeignet gewesen, aber so war es nun einmal. Manchmal musste ich den Fluss überqueren, das ging nur, indem ich über Steine balancierte. Der Fluss war nicht sehr breit, vielleicht anderthalb Meter, und eigentlich eher ein Rinnsal, der zu einer anderen Jahreszeit sicher gefährlich wäre. Er hat sich immerhin in den Stein gefressen, wahrscheinlich weiche Sedimentschichten. Es sieht an vielen Stellen spektakulär aus. Überhaupt erinnerte mich diese Wanderung an meinen Aufenthalt im Périgord. Auch hier sehen die Schluchten so aus, die Flüsse dort haben im Laufe der Jahrtausende ganze Arbeit geleistet.
Heute stieg ich immer höher, der Weg führte nach oben. Ich kam an mancher Mühlenruine vorbei, hatte Glück, es war noch ziemlich einsam, was sich später ändern sollte. Irgendwann, nach einer kleinen Kapelle, ging es ziemlich steil nach oben. An einigen Häusern vorbei, sicher kleinen Siedlungen, die lange aufgegeben sind. Das industrielle Zeitalter hat diesem Tal sicher den Rest gegeben. Dann lohnte es sich nicht mehr, hier so abgelegen zu wohnen. Man brauchte das Wasser nicht mehr, um die Mühlen zu betreiben. Die alten Häuser verfallen jedenfalls, in ein paar Jahren wird nicht mehr viel übrig sein, wenn sie nicht besser restauriert werden. Aber heute waren sie noch da, im Dickicht der Natur und an schroffen Felshängen gelegen. Die Wege waren felsig, aber zum Glück nicht mit Geröll bedeckt, was die Sache kompliziert hätte. Auch an Brücken kam ich vorbei, wobei diese gefährlicher schienen als die Überquerungen des Flusses unten auf den Steinen. Der Fluss ist oben wasserreicher, ich kam an einigen kleinen Wasserfällen vorbei, denen ich mich kletternder weise nähern konnte. Es war schön und ich fühlte mich wohl. Die angenehme Kühle des Tals gefiel mir, die Wanderung ebenfalls.
Allerdings war sie schneller vorbei als ich gedacht hatte. Es sind wirklich nur ca. drei oder vier Kilometer. Zwar ging es die ganze Zeit hinauf, aber das spürte ich kaum. Schließlich kam ich an einer gut restaurierten Mühle an, die sogar noch einen Mühlstein beinhaltete. Wie hier allerdings die Kräfte gewirkt haben, konnte ich mir nicht vorstellen. Das Mühlenrad fehlt und auch der Fluss, der einige Meter weiter unten verläuft. Zwar konnte ich Wasserleitungen erkennen, die in den Stein gemeißelt sind, aber mir fehlt die Fantasie. Vielleicht hat sich der Fluss auch einfach einen anderen Weg gesucht.
Ich erreichte eine weitere Kapelle, lunchte kurz und genoss hier den herrlichen Ausblick auf das Meer von weit oben. Mir war gar nicht bewusst, in welcher Höhe ich mich befand. Ziemlich beeindruckend. Was ich nicht realisierte, war die Tatsache, dass ich eigentlich mein Ziel fast erreicht hatte. Als ich höher stieg, kam ich an einem Seilzug vorbei, mit dem früher sicher die meiste Ware auf die gegenüberliegende Seite der Schlucht transportiert worden ist. Kurz darauf kam ich an einem Café/einerTaverne an. Hier wurde es voller und es dämmerte mir, dass ich angekommen war. Der Weg geht zwar noch ein paar Hundert Meter weiter, aber irgendwie ist es vorbei. Ich lief trotzdem weiter, kam an so etwas wie eine Quelle an. Denke ich mir zumindest.
Im Internet hatte ich gelesen, dass es eine Art Rundweg sein soll. Aber den fand ich leider nicht. Vielleicht habe ich auch zu schnell aufgegeben. Also musste ich den Weg zurück. Wie es so ist, waren jetzt die Touristen angekommen, die die Schlucht von oben herabwandern wollten. Viele mit Badeschlappen, andere fast schon hochhackig. Keine Chance. Trekkingsandalen sind schon riskant, alles andere närrisch. Es war nun trotzdem richtig voll. Ich kam zwar zügig voran, musste aber immer wieder warten, weil Leute vor mir langsamer liefen. Es ist nun einmal so, beim Wandern hat jeder sein eigenes Tempo. Ich muss in meinem Rhythmus bleiben, so wie jeder andere, der ernsthaft wandert. Trotzdem ging es ziemlich schnell, immer den Berg hinab. Ich überholte einige Leute, denen ich auf dem Weg nach oben begegnet war. Einer der Rentner hatte es geschafft, beim Überqueren des Flusses ins Wasser zu fallen. Zum Glück war nicht mehr passiert. Ich hatte sie gewarnt, alle sahen ausgesprochen wackelig auf den Beinen aus. Aber sie hatten sich lustig gemacht, über meine Sandalen, die sie wahrscheinlich für Flipflops gehalten hatten. Nun hatten sie den Schaden und ich konnte mich amüsieren. Tat ich natürlich nicht, aber innerlich musste ich schon etwas lächeln. Arroganz kommt vor dem Fall, manchmal nur eine halbe Stunde später.
Ich überholte diese Gruppe und traf bald darauf bei meinem Rad ein. Ich fuhr sofort zurück, bereue das jetzt aber, hätte im Banana Café bleiben sollen. Die Taverne auf dem Campingplatz stellte sich nämlich als ungeeignet für den Genuss eines Espresso Freddo heraus. Also habe ich selber einen an meinem Platz gemacht.
Morgen fahre ich ab, nach Chania. Es ist genau der richtige Zeitpunkt. Zwar gibt es hier noch mehr zu sehen, unter anderem das Kloster Arkadia, das hier aus geschichtlichen Gründen wichtig ist. Die Türken haben hier ein gewaltiges Massaker verübt. Nach dem Selbstmord der meisten Männer, Frauen und Kinder, die sich im Kloster verschanzt haben. Je mehr ich über die Geschichte der Griechen lese, desto besser verstehe ich die Ressentiments gegenüber den Türken. Vor allem: Wie soll man jemandem verzeihen, dem es bislang nicht einmal peinlich ist und der noch lange nicht dazu steht, was er verübt hat.
Aber wie bei vielen ehemaligen Imperien haben die Politiker es dort noch lange nicht verkraftet, dass sie nicht mehr bestehen. Man sieht es in Russland, in Großbritannien und auch der Türkei.
Da sind wir Deutschen besser dran, wir müssen uns nicht dieser Geschichtsklitterung widmen, auch wenn diese Erkenntnis teuer und blutig bezahlt wurde. Und zwar meistens nicht von uns. Aber das ist ein anderes Thema.
Morgen also fahre ich mich dem Bus nach Chania.
Und die Reise geht weiter.