Fahrt nach Griechenland

10 Stunden für 300 Kilometer! Diese Fahrt heute hatte es in mehr als einer Hinsicht in sich. Zum Glück bin ich immer derart unvorbereitet, dass ich die Anstrengung gar nicht merke, bevor sie eigentlich vorbei ist.
Dennoch, es hat sich gelohnt. Ich weiß nicht, ob ich schon einmal eine schönere und einsamere Strecke in Europa gefahren bin. Es war eine eigenartige Erfahrung, den Campingplatz heute Morgen zu verlassen. Ich werde später auf die Zeit hier zurückkommen, denn sie spielt bereits jetzt eine entscheidende Rolle für meine Reise. Aber dazu wie gesagt später. Der freundliche, ältere Italiener, dessen Familie den Platz betreibt, verabschiedete mich überschwänglich. Gestern Abend noch hatte er mich mit frischen Früchten überrascht, die ich im Anschluss an meine karge Suppe einfach gegessen habe, auch auf die Gefahr hin, wieder einen Rückfall zu bekommen. Doch ich konnte nicht anders. Snack-Attack, so nennt man das wohl, aber das großartige Stück saftiger und süßer Melone, dazu gerade gepflückte winzige rote Weintrauben, die die ganze Sonne des Mittelmeers gespeichert hatten. Es war ein kleines Fest. Wie lange hatte ich auf Nahrung verzichtet. 72 Stunden. Aber das ist eigentlich eine ganze Menge.
So also fuhr ich los und bog gleich falsch ab, ein schöner Start. Aber alles halb so wild. Dachte ich. Während der gesamten Fahrt machte ich natürlich wieder reichlich Erfahrung mit den albanischen Autofahrern, im Vergleich aller Länder, in denen ich bislang die Ehre hatte zu fahren, sind die Albanischen die schlechtesten. Ich kann mir nicht helfen, aber wenn ich nicht eine absolut passive Fahrweise an den Tag gelegt hätte, wäre jetzt etwas stark zerbeult, entweder ich oder – schlimmer – die Transe. Wo Albaner überholen, ist eigentlich kein Platz oder es gibt starken Gegenverkehr. Egal, vorbei. Niemand nimmt Rücksicht oder wartet einen Moment, niemand verzögert das Gasgeben, um einen anderen hineinzulassen oder umgekehrt, schaut gar nicht, ob der andere langsamer wird, damit man einfädeln kann. Dabei hat sicher jeder zweite Albaner ein Handy am Ohr, und das bei Straßenverhältnissen, die man bei uns gar nicht als solche bezeichnen würde. Also vielleicht als Verhältnis und zwar welche auch immer. Aber sicher nicht als Straße. Die Schlaglöcher gehören sicher dazu, das ist nicht ungewöhnlich. Aber die Bodenwellen sind manchmal so tief wie der Mariannengraben, der Teer liegt wie Würste an den Seiten. Manche Brücken sehen so alt und wackelig aus, dass es an ein Wunder grenzt, dass sie noch stehen geschweige denn Verkehr aufnehmen können. Gullis liegen manchmal viele Zentimeter unter dem Asphalt – oder weit darüber, so dass man sich die Reifen leicht aufschlitzt, wenn man sie übersieht. In einigen Orten sind „Geschwindigkeitsschweller“, oft kaum zu sehen, die sicher schon für so manchen Achsbruch gesorgt haben. Der Schmuck an der Seite zeigt es deutlich. Hunderte, Tausende von kleinen Altären, Grab- oder Erinnerungsstellen. Oder frische Blumen bei einem kürzlichen Ableben. Ich verstehe es nicht, denn selten habe ich so viele Straßenkontrollen gesehen. Doch scheinen die Ordnungshüter noch nicht scharf genug zu urteilen. Es ist entsetzlich, wenn man die Jahreszahlen derjenigen liest, die jeweils verunglückt sind. Oft gerade 18, oder in den frühen Zwanzigern, also noch vor dem Austreten aus der Pubertät. Bei den Männern zumindest. Genug gemeckert. Ist ja schlimm, war doch so ein schöner Tag.

Bis Vlores kam ich recht gut voran, entlang von recht langweiligen Neubauten und Ressorts, die leider überall aus dem Boden sprießen. Es wäre besser, wenn die Albaner erst einmal das Müllproblem angehen würden, denn ohne eine Lösung hier wird es wohl kein ernsthafter Anwärter auf einen Platz im ewigen Urlaubshimmel.
Doch das Fahren ging problemlos. Ich überlegte sogar, mir noch eine Ausgrabungsstätte anzusehen, die irgendwo ausgeschildert war. Ich entschied mich dagegen, meine innere Stimme riet mir dazu. Kurz hinter Vlores begann der Aufstieg. Ich hätte es sehen können, wenn ich mir einige Minuten Zeit für das genaue Studium der rudimentären Landkarte genommen hätte. So aber wurde ich überrascht. Vor mir tauchten Berge auf, die mich nicht sonderlich beeindruckten, zumindest was die Höhe anging. Sicher doch würde die Straße in einem Tal verlaufen oder daran vorbei. Aber nicht doch. Es ging direkt drüber, und zwar so steil, dass ich manchmal sogar im ersten Gang Probleme hatte, den Hügel hoch zu kommen. Die Straßen waren wie oft, eben albanisch, ich denke, das half nicht gerade. Der Motor wurde immer heißer und an einer Stelle überlegte ich ernsthaft zu wenden. Ich hasse das, zurück. Wer macht denn so etwas? Aber die Transe schaffte es irgendwie. Es sollte nicht die einzige Tortur des heutigen Tages bleiben.
Wir schafften es bis zum Wendepunkt am Pass, wo ich ein neu gebautes Restaurant fand. Hier brauchte ich eine kleine Pause und eine Stärkung. Zum Glück vertrage ich Espresso wieder.
Die Aussicht.
Meine Güte.
Ich hatte vor ein paar Tagen gezweifelt, ob ich weiter reisen möchte. Es sind diese Momente, in denen ich mich wieder daran erinnere. Vom Gipfel, der ungefähr auf 1000 Metern lag, fiel der karge Hügel sanft bis zum Meer hinab, das Meer war bewegt, das sah man sogar von Weitem. Alles sah so klein aus, die wenigen Häuser
Die Fahrt hinunter war mindestens ebenso abenteuerlich. Steil und rasant, oft musste ich den Motor zum Bremsen benutzen, was der gar nicht mochte, doch wie sonst sollte ich diese volle Fahrt auf den Abgrund hin verlangsamen? Die Strecke an dieser albanischen Riviera entwickelte sich als malerisch schön. Fast immer entlang am Meer, an den Bergen praktisch, denn ich befand mich meist recht weit über der See. Die Ausblicke sind rustikal, harte Felsen, Wellen mit Gischt, einsame Dörfer weit über mir an den Hängen der Berge. Dass ich mich kaum vorwärts bewegte, scheint klar. Selbst wenn ich einmal freie Fahrt hatte, blieb ich oft stehen, um Bilder zu machen. So oft allerdings auch nicht, denn die Fahrt zog sich hin, ich kam kaum voran. Es war schon lange nach vier, vor sieben Stunden war ich abgefahren. Pause hatte ich nur eine gemacht, zehn Minuten auf dem Zenit, dann erreicht ich Sarande. Hier sollte es eine Art Autobahn zur Grenze geben. Die fand ich nicht, statt dessen landete ich auf einer Straße nach Butrint. Was ich jetzt erlebte, ließ mich endgültig an Marokko denken. Denn die Teerstraße hörte irgendwann auf und die Piste begann. Ich fuhr vielleicht 20 Km/h, hatte kaum Augen für den herrlichen See. Bei Ksmil begann endlich die Teerstrecke wieder, dafür blickte ich auf eine erdbebengeschädigte Stadt. Rohbauten begrüßten mich, viele schief und krumm, die Fundamente im Mark erschüttert. Es war kein sehenswerter Anblick, die neuen Entwicklungen, Hotels und Ressorts verbesserten den Eindruck nicht. Doch als ich durch den Ort hindurch war, begann die Piste wieder. Ich erlebte Horrorszenarien, musste an Bussen vorbei an Stellen, an denen nur ein Fahrzeug unserer Größe vorbei passte. Ich machte irgendwie Platz und diese Kerle schimpften immer noch. Kaum zu glauben.

Ich kam nach einigen Schrecksekunden an einem Fluss an, die viel beschriebene Fähre von Butrint erwartete mich. Zum Glück wusste ich vorher nicht, wo ich hingefahren war. Schneller als ich dachte stand ich auf dem wackligen und rostigen Kahn aus Stahl und Holz, sicher aus den Zwanziger Jahren. Der alte Fährmann tat sich an meinen Euros gütlich, bis ich ihm sagte, dass es langte. Der Fluss war stürmisch, die Wellen höher als mir lieb war. Zum Glück war ich so erschöpft, dass ich es nicht wirklich merkte, aber es war schon ein Abenteuer. (Hier habe ich aus Unwissenheit eine der größten Attraktionen Albaniens verpasst. Die antike Stadt Butrint. Ich bin noch immer untröstlich.)

Danach dauerte es nicht mehr lange und ich stand an der Grenze. Ein echter Abschnitt ging zu Ende, einer, der am 22.7. mit dem Grenzübertritt nach Slowenien begonnen hatte. Ich stand wieder auf „West-Europäischem“ Boden, auch wenn das natürlich weder geografisch noch politisch stimmt. Dennoch merkte ich es sofort, es ist einfach anders. Sicher nur ein lausiges Gefühl im Bauch, aber ein großer Schritt und eine riesige Etappe für mich, den West-Berliner, der sozialistischen Staaten und deren Betreibern niemals auch nur einen Millimeter über den Weg getraut hat. Für ein Fazit bin ich zu müde, ebenfalls für die Beschreibung, warum Albanien so wichtig war. Das muss einfach bis morgen warten.