Istanbul

Es ist Herbst. Über Nacht ist er angekommen, heimlich und leise. Als wenn die Bäume mit den Augen blinzeln, sich langsam darauf vorbereiten sich hinzulegen. Sie wirken müde, nach einem langen Sommer erschöpft, und auch wenn sie noch ihr grünes Kleid tragen, legen sie es doch langsam ab.
Es war kühl letzte Nacht, es werden sicher die letzten Tage, an denen ich Sandalen tragen werde. Von wenigen Tagen abgesehen lief ich ein halbes Jahr barfuß durch die Gegend, bald ist es nun damit vorbei. Auch habe ich das erste Mal seit Granada wieder meine Jacke ausgepackt. So ist es nun mal, der Lauf der Zeit.
Ich werde ein wenig hier bleiben, trotz der Tatsache, dass es ein weiter Weg bis in die Stadt ist. Aber heute habe ich meinen Tag anders geplant. Auch wenn mir der gestrige noch in den Knochen steckte, schaffte ich es, noch vor acht aufzustehen. Durch das viele Laufen und Fahrradfahren taten mir die Muskeln weh, doch ich setzte mich gegen meinen Körper durch. Um neun fuhr ich ab, diesmal mit dem Auto, denn dieses Spiel von gestern mache ich nicht noch einmal mit. Allein der Gedanke an mehrere Kilometer Fahrradschieben ließ mich meine Fahrpläne ändern. Trotz meiner Sicherheitsbedenken parkte ich das Auto in Selimpasa, um von dort den Bus zu nehmen. Übrigens, wahrscheinlich ist etwas mit der Kiste. Ich höre aus dem rechten Radkasten ein „Klonken“, das ich nicht identifizieren kann. Ich dachte immer, dass es etwas wäre, das von innen gegen etwas schlägt, doch das scheint nicht der Fall. Wahrscheinlich werde ich am Montag einmal beim Mechaniker vorbei schauen. Müssen. Denn ein Ölwechsel ist seit 1000 Kilometern fällig.

Übrigens, nachdem ich heute nochmals die Landkarte studiert habe, stellte ich fest, dass ich gestern nicht in Asien war. Das wäre ich erst, wenn ich über den Bosporus drüber wäre, das war ich aber nicht. Ich habe etwas überlegt, hätte meinen Text von gestern ändern können. Aber davon kam ich ab, denn wenigstens enthält er Irrtümer, die beim Reisen immer wieder einmal vorkommen. Es ist eigentlich auch gut so, denn ich werde auf einem anderen Weg nach Asien reisen, über die Dardanellen, den Hellespont, wie auch immer man ihn nennen will, die Meerenge zwischen dem Meer von Marmara und dem Mittelmeer, den etliche persische Könige überwinden mussten, bevor sie von den Griechen wieder zurückgescheucht wurden. Das halte ich für authentischer und spektakulärer, denn ich muss eine Fähre nehmen. Aber noch bin ich hier.

Die Stunden im Bus nutzte ich intensiv, um am Roman zu arbeiten. Es klappte fantastisch, ich holte sogar etwas von dem auf, was ich gestern versäumt hatte, denn diese Arbeit hatte ich nicht mehr geschafft. Nach langem Stau war ich endlich dort, wo ich hinwollte.
Heute hatte ich mir ein Ziel vorgenommen, das etwas außerhalb der üblichen Route liegt, doch empfand ich es als passend. Ich sah mir die alte Stadtmauer an. Zu dem Zweck stieg ich schon etwas früher aus der Metro, dort erhob sich auch schon diese prachtvolle Anlage. Soweit ich es verstanden habe, ist es auch der Ort, an dem Mehmet der Eroberer hier im Jahre 1455 das Bollwerk endgültig durchbrochen und in der Folge das Byzantinische Imperium vernichtet hat. Die Mauer ist an dieser Stelle ausgesprochen zerstört, was allerdings auch an etlichen Erdbeben gelegen haben könnte. Sie muss einst gewaltig gewesen sein, dicke Mauern, alle paar Meter ein wuchtiger Wachturm, ein Bollwerk aus einer anderen Zeit, denn bereits Theodorus, der erste Kaiser hier im 4. Jahrhundert, hat sie weitgehend errichten lassen. Davor und auch zwischen den Mauerstücken sind übrigens immer wieder kleine Felder, auf denen Leute Gemüse anbauen. Man muss schon noch praktisch bleiben. Kilometerlang erstreckt sich diese einzigartige Festung. Ich lief sie teilweise ab, beinahe bis zur Erschöpfung. Immer entlang an den Ruinen, bröckelnd und romantisch, die gegen alle Gesetze der Natur noch immer stehen, nach mehr als 1600 Jahren. Sicher, die Mauern sind instand gehalten worden, wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie noch da sind. Ich empfand es übrigens als passend, sie zuerst zu sehen, noch bevor ich mir den Topkapi-Palast oder die Hagia Sofia ansehe. Es ist das Bollwerk, das die Osmanen zuerst haben überwinden müssen, bevor sie die Stadt plündern und später besetzen konnten. Aber Byzanz ist nicht zuerst von den Türken erobert worden. Es waren Kreuzfahrer im Jahr 1204, die die Stadt als erstes einnahmen, alles im Rahmen des 4. Kreuzzugs. Man muss sich das vorstellen, unterwegs, um Jerusalem von den „Ungläubigen“ zu befreien, machten sie Halt und plünderten stattdessen die christliche Hauptstadt. Christliche Gotteskrieger meucheln Christen in Byzanz. Perverser geht es nicht, aber das waren die Kreuzzüge sowieso, also macht es wohl keinen Unterschied. Byzanz erholte sich von diesem Schlag nur leidlich, wahrscheinlich war es nur Teil des langsamen Sterbens, das schon einige Jahrhunderte vorher begonnen hatte und das die Türken nur vollendeten. So wie bei einem hohlen Zahn, wenn er bereit ist, zu implodieren, wird es geschehen, egal ob man auf eine harte Nuss oder in ein weiches Croissant beißt.

Ich kam zur Festungsanlage Yedikule, die Mehmet nach der Eroberung der Stadt errichtet hatte. Eine Trutzburg von beeindruckender Stämmigkeit. Teil der Anlage ist das Goldene Tor, das prestigeträchtige Relikt aus der Kaiserzeit, das Prunktor mit Türen aus Gold, das natürlich schon lange vor dem eigentlichen Fall entfernt und einem anderen Nutzen zugeführt wurde. Ich stieg auf einen der Türme, auf rutschigen und unebenen Stufen. Von hier hatte ich fantastische Ausblicke auf die Stadt und auf das Marmarameer, in dem eine Flotte von Tankern und Transportschiffen lag. Fast kann man sich die alten Galeeren vorstellen, die hier vor vielen Jahrhunderten andockten. In diesem Turm war früher auch der Kerker untergebracht, eine grimmige Angelegenheit.

Nun wusste ich nicht genau wohin, lief einfach geradeaus durch das Viertel hindurch in Richtung Aksaray. Mitten hindurch durch das türkische Leben, an Restaurants – besser Dönerias – vorbei, Geschäften, Teekneipen für Männer. Nach einigen Kilometern merkte ich, dass ich die Hagia Sofia heute nicht mehr erreichen würde. Ich gönnte mir einen türkischen Kaffee in einem Café, der Kellner knöpfte mir 5 Lira dafür ab, was ich als völlig übertrieben empfinde – schließlich handelt es sich um eine Pfütze ungefilterten Kaffee, aber sei es drum. Jetzt bin ich wieder auf dem Heimweg. Mehr als fünf Stunden Sightseeing schaffe ich ohnehin nicht. Letztlich kann ich daher die Zeit im Bus zum Nachdenken, Lesen und zum Arbeiten nutzen. Heute hatte ich damit Erfolg. Morgen mache ich es genauso. Vielleicht stehen wir dann auch nicht so lange im Stau. Aber das gehört zu einer Großstadt. Und diese Bezeichnung ist für Istanbul ohnehin noch untertrieben.