Ölüdeniz/Kayaköy

Es hätte ein wundervoller Tag und Abend werden können. Leider findet nebenan wieder eine Party statt, seit 16 Uhr laufen die Soundchecks, bis 23 Uhr werde ich nicht zur Ruhe kommen. Warum Leute das ertragen, gehört zu den Rätseln. Wäre ich hier Campingplatzbetreiber, würde ich Sturm laufen, denn es beschädigt eindeutig das Geschäft. Gestern sind einige Gäste abgefahren, weil es ihnen in der Nacht zu laut war. Morgen wird dasselbe geschehen. Dabei bin ich in der Zwickmühle, denn es gibt nicht mehr viele Orte hier, die ich besichtigen möchte, da ich auch etwas für die gemeinsame Zeit mit Nina aufbewahren möchte. Wir werden sehen…
Dabei begann der Tag so gut. Schon früh war ich wach und machte mich bereit zu einem der leider seltenen Wandertage. Warum ich das auf der Fahrt so vernachlässigt habe, kann ich nicht erklären. Vielleicht weil ich im Hochsommer in Alpennähe war und das Wetter lange Touren nicht möglich gemacht hat. Es war damals bei Weitem zu heiß. Und als es Herbst wurde, hatte ich in Griechenland zu tun, kam irgendwie nicht dazu. Dabei habe ich fast vergessen, wie gerne ich Hügel bezwinge und unterwegs bin. Was auf mich heute zukam, wusste ich noch nicht, denn selbst im Internet fand ich kaum Informationen zum Wanderweg von Ölüdeniz nach Kayaköy, der griechischen Ruinenstadt. Der Start war recht leicht, denn ich musste nur den Weg an der berühmten Lagune entlanglaufen, bis die Straße endete und in einen Pfad in den Wald überging. Zwar fehlte es an Bezeichnungen, doch andere Wanderer haben den Weg mit Steinhaufen markiert und zwar so eindeutig, dass selbst ich mich nicht verlaufen konnte. Nach vielen Jahren habe ich das wieder gesehen. Das erste Mal kam ich mit diesem System im Lake District in England in Berührung, wo Wanderwege nicht offiziell markiert sind. Also erledigen die Engländer das selber. So wie immer.

Der Weg ist wunderbar, am Anfang stieg er nur langsam an. Bald wurde der Pinienwald etwas dichter, gab dann aber etwas mehr Sicht frei. Irgendwann begannen übrigens die Markierungen, ab diesem Zeitpunkt verschwanden zu meinem Leidwesen die angehäuften Steine. Hier wurde es steiler und ich war froh, relativ neue Trekkingsandalen zu tragen, die mir einen festen Stand ermöglichten. Der Pfad wurde immer unsichtbarer, aber ich fand ihn doch immer wieder. Nachdem ich einen Hügel erklettert hatte, wusste ich schon, dass sich die bislang geringen Anstrengungen gelohnt hatten. Ich erfreute mich an der Aussicht auf die Bucht unter mir. Spektakuläre, bewaldete Berge erhoben sich, das Wasser schimmerte intensiv blau und die Sonne tauchte alles in ein unwirklich helles Licht. Immer höher stieg ich, mit jedem Meter wurde die Sicht etwas besser und der Weg immer schwieriger. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, was natürlich angesichts der vielen Berge hier naiv gewesen ist. Ab einem Punkt marschierte ich allerdings auf einem groben Kopfsteinpfad, der sicher Jahrhunderte alt ist. Wenigstens hier konnte ich mich nicht verlaufen. Dann war ich oben, der Pinienwald spendete mir wieder Schatten und ich genoss die frische Luft, die angenehm nach Holz roch.

Dann sah ich sie. Die Ruinenstadt Kayaköy. Ein bizarrer Anblick, denn die vielen Hundert Skelette von mittelalterlichen Häusern erinnerten mich an einen Mund mit schlecht gepflegten Zähnen. Überall klafften Löcher, die Atmosphäre war gespenstisch. Es wurde aber noch besser. Der Weg nach unten, den ich beschreiten musste, war noch steiler als sonst und ich merkte langsam, dass ich in letzter Zeit kaum gewandert war. Dann stand ich auf den überwucherten Straßen Kayaköys. Ich liebe Geisterstädte. Dabei hatte ich über diesen Ort gelesen. Die Stadt war bis 1922 von Griechen bewohnt, die im Zuge des „Bevölkerungsaustauschs“ nach Griechenland ziehen mussten. Seit Jahrhunderten hatten sie hier gewohnt, wurden gezwungen, dem Willen von eigenmächtigen Staatsmännern zu folgen. Die Neubesiedlung der Stadt scheiterte, so wurde dieser Ort zu dem, was er jetzt ist, einer atmosphärischen Geisterstadt. Was mir sofort auffiel, war das Fehlen jeglichen Holzes. Fensterbretter sieht man nur noch als Abdruck, Türbalken ebenfalls. Verrotten die so schnell? Ich habe einen Ort wie diesen in meinem gotischen Roman beschrieben, der ist Jahrhunderte alt, aber dort gibt es noch morsche Balken. Habe ich mich geirrt? Ich muss das recherchieren. Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen.

So wanderte ich durch die Stadt, besichtigte eine Kirchenruine, die mir sehr gefiel. Irgendwann kam ich an einem Wärterhäuschen vorbei. Der Wächter nahm mir acht Lira Eintrittsgebühr ab. Mist. Das hätte ich vermeiden können. Aber eigentlich ist es nur recht, denn auch diese Ruinenstadt muss erhalten werden. Ich fand danach sogar das, was ich gesucht hatte: ein Knochenhaus. Im Rough Guide wird es spektakulär und gruselig beschrieben, aber ich fand es etwas langweilig. Vielleicht weil mir der Anblick eines Haufens Knochen nichts ausmacht. Schon die Katakomben in Paris haben mich kaum berührt. Knochen eben. Hat doch jeder. Oder?

Eigentlich wollte ich danach zu einer angepriesenen Bucht. Doch als ich mich auf dem Weg befand, sah ich, dass ich weiter absteigen musste. Wer absteigt, muss auch wieder hinauf. Meine Beine fühlten sich aber schon so schwer an, dass ich es bleiben ließ. Es ist immer wichtig, seine eigenen Grenzen zu bemerken und zu respektieren. Ich hatte ebenfalls noch den anstrengenden Rückweg vor mir.
Diesmal fand ich übrigens die Markierungen, die anscheinend von dieser Seite aus wesentlich sichtbarer sind. Allerdings verließ ich versehentlich sicher ein halbes Dutzend Mal den Weg, fand ihn aber immer wieder. Mit einer Ausnahme. Ich hatte schon akzeptiert, dass das nicht der Pfad war, den ich auf dem Hinweg genommen hatte. Irgendwo, ich schaute wieder auf die Lagune hinunter, hörten die Markierungen plötzlich auf. Ich stand auf einem steilen Stück, das Geröll unter meinen Füßen fühlte sich nicht gut an, doch es ging irgendwie weiter. Es war allerdings kein Pfad mehr, so viel stand fest. Ich rutschte mehr schlecht als recht den Hügel hinab. Eigentlich hatte ich so etwas vermeiden wollen, aber diese Möglichkeit stand nicht mehr im Raum. Ich schaffte es hinunter, manchmal denke ich, dass mein Schutzengel schon völlig zerfledderte Flügel haben muss. Sehr vernünftig war diese Aktion jedenfalls nicht.
Erst als ich unten war, sah ich, dass ich wieder auf dem alten Pfad angekommen war. Hier sah ich auch, dass ich schon auf dem Hinweg Zeichen übersehen hatte, auch entdeckte ich das Ende des Pfades, auf dem ich eigentlich hätte hinab kommen müssen. Das Schöne beim Wandern ist, dass sich die Irrtümer oft aufklären. Und man lernt eine Gegend eben auf diese Weise am Besten kennen.

Jetzt ist es schon beinahe acht Uhr abends, ich sitze im Camper und muss mir die schallenden Bässe anhören. Es ist schade, denn ein solcher Tag hätte einen anderen Abschluss verdient. Und wirkliche Lust, morgen am Sonntag weiter zu fahren, habe ich eigentlich nicht. Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig.