Mein Handy ist verloren.
Nokias Schlachtschiff von 2005. Mein Handy, das mich zehn Jahre überall hin begleitet hat. Mein zweites erst, jemals, das ich neulich mit Tesafilm habe kleben müssen, weil der Deckel nicht mehr hielt. Dafür lief es noch in dem Alter länger als so manches Smartphone (im Augenblick). Nur alle drei Tage musste ich es aufladen. Schrullig, oder? Eigentlich könnte ich froh sein, dass es fort ist. Vielleicht belasse ich es erst einmal dabei und kaufe kein neues. Einen schönen Gruß an die NSA. Die wahrscheinlich als Ausgleich einfach mein Tablet anzapft. Vielleicht sollte ich mir einen Aluhut basteln.
Aber genug von Verschwörungstheorien und längst fälligen Verlusten. Der Tag begann wundervoll, mit Sonnenschein. Zwar war es noch recht frisch, auch wegen des Windes, aber das Wetter war drauf und dran, umzuschwenken in das, was ich eigentlich um diese Jahreszeit von ihm erwarte. Es war genau das Richtige für eine Wanderung: Douarnenez ist umgeben von Wanderwegen, ein Mekka für Ertüchtigung dieser Art. Warum niemand oder kaum jemand herkommt, ist nicht verständlich. Mir ist es recht. Dabei ist es auch eine Gegend voller Energie, wie ich finde. Keine liebliche Strandgegend, das Meer ist lebendig und wild, die Natur rau, aber auch wundervoll bunt.
Meinen Rundgang begann ich mit einem Marktbesuch. Direkt am Port de Plaisance standen recht übersichtlich die Buden. Es war ein vergleichsweise kleiner Markt, angemessen für den Ort, ohne allzu viel Tand. Eben kein Touristenmarkt. Es hatte sein Gutes, denn nach zehn Minuten war ich durch. Manchmal ist es ein bisschen schade, aber ich brauche als Camper kaum etwas. Und meist komme ich nicht auf die Idee, meine zurzeit geringen Bedürfnisse auf einen Markttag zu konzentrieren. Auch wollte ich weiter, so dass mich selbst kleinere Einkäufe unnötig belastet hätten. Immerhin ein Pain de Campagne kaufte ich. Man muss ja auch rasten, wenn man wandert.
Ich ging den GR34 entlang, den es ja auch in Concarneau gibt. Somit setze ich eigentlich nur alte Wege fort. Der GR34 zieht sich fast immer entlang der Küste in Finistère. Oder noch weiter. So genau weiß ich es nicht. Eine Wanderung würde sich bestimmt mal lohnen, also zumindest irgendwann einmal einen Teil der Strecke.
Es dauerte etwas, bis ich aus der Stadt herauskam. Erst erreichte ich einen Strand, Plage des sables blancs, auf dem bereits reger Betrieb herrschte. Ich ließ ihn links liegen. Kurz dahinter beginnt das, was ich als echten „litorale“ bezeichne, also die typischen bretonischen Küstenpfade. Es ist himmlisch, dass es sie gibt, kilometerweit, ohne Ende. Alles ist grün, die Wege sind anspruchsvoll, voller Steigungen und Felsen, dazu immer die Dramatik der Landschaft, die sich ständig und dauernd verändert. Das Meer ist mal ruhig, dann schlägt es wieder donnernd gegen die rauen Felsen, die nie weit weg sind. Es ist eigentlich immer unter oder neben einem. Grandios. Und die Pfade sind fast einsam. Nur einige Wanderer traf ich, die nach kurzem Gruß weitertrotteten. Wahrscheinlich macht man Strecken wie diese mit sich selbst aus. Ich genoss es jedenfalls. Da ich noch immer ziemlich ungeübt bin, merkte ich den anspruchsvollen Weg bald in den Beinen. Es ist eine Kunst zu wissen, wie weit man es schafft. Denn zurück musste ich ja auch noch. Also setzte ich mir ein Ziel, den Pointe de la Jument, wie ich später recherchierte. Es sieht auf der Karte nicht sehr weit aus, aber die Wanderung ist nicht ohne. Vor allem für einen Schreibtischtäter wie mich.

GR34 Douarnenez

Irgendwann dann merkte ich, dass das Handy fort war, das ich zu Beginn der Wanderung noch als Zeitmesser verwendet hatte. Ich hatte schlicht vergessen, den Reißverschluss der Tasche zu schließen. Es war so klar, dass so etwas geschehen musste. Hundertmal denkt man daran, die Tasche zu verschließen. Dann einmal nicht. Und das ausgerechnet in der bretonischen Wildnis. Es ist unangenehm, nicht wegen des technischen Wertes, der gen Null gehen muss. Sondern wegen der Tatsache, dass man so etwas heutzutage nun einmal braucht. Telefonzellen sind verschwunden. Und wenn man in einer französischen Stadt ins kommunale Wifi-Netz möchte, muss man sich oft mit einer Handynummer anmelden. Egal, es muss nun auch ohne gehen. Es gibt ja noch Skype. Ich suchte natürlich. Auf ca. 4 Kilometer Küstenstreifen konnte ich es verloren haben. Der Witz war, dass ich wirklich glaubte, das Ding in der Wildnis zu finden. Vielleicht in einem Farnfeld. Oder nahe irgendwelcher Steilklippen. Übrigens ließ ich mir durch den Verlust nicht das Wandern verderben. Ich erreichte mein Ziel, den Pointe de la Jument, und nahm dort ein ausgezeichnetes Picknick zu mir. Auf einem Felsen, weit unter mir das Meer, das mich grüßte. Dann kehrte ich um, Blick abgewandt von der Dramatik um mich herum, fixiert auf den kleinen schwarzen Kasten, dir den Niedergang Nokias nicht hatte verhindern können. Eine Stunde suchte ich, während ich zurücklief. Irgendwann sah ich aber ein, dass ich es nicht wiederfinden würde. Zwar schmerzt mich der Verlust, weil er alles etwas komplizierter macht. Aber eben nur etwas. Es ging früher auch ohne. Und heute ebenfalls. Zumal man immer irgendetwas digitales dabei hat, auf das man ausweichen kann. Also ist alles gut. Trotzdem gebe ich meiner Hose die Schuld. Warum Taschen mit vertikalem Einlass? Einmal vergessen, den Reißverschluss zu schließen und fort ist alles, was eigentlich in die Tasche gehört. Ich werde bei den nächsten „combats“ darauf achten. Denn ich vergesse Reißverschlüsse oft zu schließen. Garantiert.
Auf dem Rückweg setzte ich mich noch in einen Kaffee am Plage des sables blancs und schrieb. Ich spürte die Wanderung in den Beinen, auch wenn ich mich rasch erholte. Dann gönnte ich mir 20 Minuten am Strand. Eine Seltenheit. Es war ganz gut, dass es nicht zu heiß war, denn Schatten gibt es hier nicht.
Der Abend wurde dann zum besten, was ich um diese Zeit erleben durfte. Ich konnte das erste Mal sowohl draußen kochen als auch essen. Das ist hier keine Selbstverständlichkeit. Ich genoss es in vollen Zügen, nahm es, wie es kam. Ich fühle mich so lebendig in dieser Gegend, so energetisch. Full of purpose, würde der Engländer sagen. Ich habe das Gefühl, jede Sekunde zu nutzen. Und zwar genau zu dem, wozu ich sie nutzen soll. Ich weiß nicht, warum ich so lange nicht mehr hier war. Von der Bretagne sage ich immer, dass ich die Zeit meines Lebens hier verbracht habe. Damals, 1998, noch als Dichter und Zeichner (und BWL-Student).
Das ist so lange her.
Wie konnte ich das vergessen?