14. und 15.9. Innsbruck 

Gestern war ein typischer Reise- und Organisationstag. Da einiges im Camper danach schrie, ersetzt zu werden, machte ich einen Zwischenstopp in einem Einkaufszentrum in Innsbruck. Ikea ließ grüßen, da weiß ich wenigstens, welchen Mist ich dort bekomme.
Der Rest des Tages hüllt sich in Schweigen. Im Ernst, ich verbrachte ihn auf dem chicen Campingplatz bei Natters, genoss die Designer-Sanitäranlagen samt Discobeschallung. Der wahre Grund aber war der stetige Regen, der es mir ermöglichte, mich ohne schlechtes Gewissen in meinen Camper zurückziehen zu können. Es war ein melancholischer, ineffizienter Tag. Ich machte mir Gedanken über meine Zukunft, die ich wieder einmal so errichtet habe, dass sie einem alpinen Berg gleicht, der sich nur mit Mühe besteigen lässt. Einen nahezu sicheren Job habe ich in den Wind geschlagen, weil ich es niemals hätte ertragen können, wieder in einem Call Centre zu arbeiten. Der Gedanke daran macht mich beinahe physisch krank, so sehr sträube ich mich dagegen. Auf der anderen Seite sind meine Bemühungen, als Übersetzer zu arbeiten, auch nicht gerade erfolgreich. Hier scheint mir die Ausbeutung noch größer als in einem Angestelltenverhältnis. Natürlich mit erheblich höherem Risiko. Also alles nicht besonders rosig. Dass ich als Schriftsteller finanziell keine Bäume ausreißen werde, daran habe ich mich auch schon gewöhnt. Wie es weitergehen soll, weiß ich nicht. Ich werde mich weiter in die Arbeit stürzen, die Projekte umsetzen, die mein Herz in Auftrag gegeben hatn und darauf hoffen, dass ich ein Zeichen von außen endlich verstehen werde. Es wird sich alles einordnen, dessen bin ich sicher. Nur fällt es manchmal schwer, die Hoffnung und die Geduld aufzubringen.

Vielleicht wegen der schweren Gedanken erwachte ich heute Morgen schon sehr früh, beinahe noch vor Sonnenaufgang. Ich kann es nicht genau sagen, denn die Berge, die um Innsbruck herum sehr hoch sein sollen, waren eingehüllt in dichte Wolken, so das ganz Österreich den Eindruck einer flachen, norddeutschen Landschaft erweckte. Ich machte das Beste daraus und bereitete mich auf den Besuch Innsbrucks vor. Also eigentlich bereitete ich gar nichts vor, sondern ich nahm einfach den Bus, der wie von Zauberhand bereits im Preis der Kurtaxe enthalten ist. Zwar sind meine kalkulierten Übernachtungskosten wesentlich höher als gewollt, aber das gesamte Drumherum ist defacto gratis. Es gleicht sich also wieder aus.
Die Stadt erreichte ich schnell binnen einer halben Stunde. Trotz Umsteigens. Österreichische Städte haben immer etwas Eigenes, etwas, das mir nicht sofort zufliegt. Salzburg, Wien, Villach, jetzt Innsbruck – sie alle sehen aus wie geleckt, ohne Ecken und Kanten, vielleicht ohne das, was man bei einem Menschen als Charisma bezeichnen würde. Alles ist sauber und geordnet, das Leben scheint in den richtigen Bahnen zu laufen. Als ich die Altstadt erreichte, die durchaus ihren Charme hat, sah ich gut beschilderte, historische Gebäude, die aber den Anschein erweckten, dass sie eine Spur zu perfekt restauriert sind. Zwar ist das eine oder andere windschiefe, von der Zeit gebeugte Haus dabei. Aber wahrscheinlich haben die Österreicher es nur nicht gerade gemacht, weil das eben einfach nicht funktioniert. Auch die Geschäfte, die allesamt den Tourismus bedienen, sehen aus wie geleckt. Das goldene Dachl sticht dabei etwas heraus, vielleicht auch, weil es wirklich historisch aussieht. Und auch glänzend-verziert genug, um aufzufallen. Dabei ist es gar nicht aus Gold, sondern nur aus Kupfer. Sicher ist das bei den heutigen Preisen für Metall ziemlich einerlei. Es ist in jedem Fall ein beeindruckendes Wahrzeichen.

Was mich aber am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass ich so schnell durch das Zentrum hindurchgelaufen war. Ich kehrte also um, ging noch das eine oder andere Gässlein entlang, doch stand ich zwanzig Minuten später vor dem Dilemma, eigentlich alles bereits mindestens zweimal gesehen zu haben. Zu einem Museumsbesuch konnte ich mich nicht durchringen, zumindest bis jetzt noch nicht. Vielleicht ist Österreich aber auch nicht meine Sache, zumindest nicht, was die Städte betrifft. Ich kann es nicht ändern, ich mag es kantig, vielleicht auch mal etwas dreckig, voller Charakter. Neapel, Palermo, Izmir, wo die Luft schon vibriert, ohne dass man sich bewegen muss. Das habe ich hier noch nicht erlebt. Dabei passt Innsbruck so gut in die Umgebung, nämlich die Alpen selber. Die stehen auch einfach nur da, recken sich in den Himmel, sind sauber und geordnet. Doch vielleicht muss ich noch tiefer graben, denn ich bin mir sicher, dass es auch in Innsbruck noch einen Zauber gibt, zu dem ich bis jetzt einfach keinen Zugang gefunden habe. Ich werde mir die Stadt morgen nochmals ansehen, vielleicht doch in das eine oder andere Museum gehen. Aber das werden wir sehen. Noch ist ja dieser Tag noch nicht beendet. Im Gegenteil. Es ist gerade einmal halb zwölf. Das ist das Problem, wenn man so früh aufsteht…

Jetzt ist es viel später. Aber so spät nun auch nicht. Als ich aus dem Buchladen heraustrat, in dessen Café ich für eine Weile geschrieben hatte, präsentierte sich Innsbruck von einer völlig anderen Seite. War die Stadt vorher wie ausgestorben gewesen, wirkten die Straßen und Plätze nun belebt. Die Sonne hatte sich Minuten zuvor den Weg durch die Wolken erkämpft. Auch das half. Erst jetzt fiel mir auf, dass viele Häuser in in recht bunten Farben angemalt sind. Als ich wieder durch die Gassen schlenderte, hatte Innsbruck ein beinahe mediterranes Flair. Die Berge um Innsbruck herum kamen ebenfalls langsam zum Vorschein, doch sollte es bis zu meiner Abfahrt um Drei dauern, bis sie wirklich zu sehen waren. Erst wenn all diese Umstände stimmen, versprüht die Stadt den Zauber, auf den ich gewartet hatte. Natürlich wurde das Zentrum nicht größer, aber so ist es nun einmal.
Trotzdem kann ich mich nicht entscheiden, wie es weitergehen soll. Italien ist nicht mehr fern, zumindest auf der Landkarte. Doch ist es das, was ich will? Ich habe in den Bergen nicht das Gefühl, so viel arbeiten zu können, weil es mich natürlich auf die Gipfel treibt. Das ist zwar himmlisch, aber auch anstrengend, so dass ich nicht mehr viel Energie habe, um meine Geschichte zu beenden. Es liegt am Ende alles an meiner eigenen Einstellung. Vielleicht hatte ich gehofft, dass der Funke der Europa-Reise überspringt. Dass ich mich wieder so fühle wie vor einem Jahr, als es nur darum ging, den nächsten Höhepunkt anzusteuern. So ist es im Augenblick nicht. Noch immer spüre ich Wehmut, wenn ich an diese Reise vor zwölf Monaten denke. Das hindert mich daran, den Augenblick wirklich zu genießen. Es ist ein Luxusproblem, ich weiß. Denn ich fühle mich natürlich schuldig, weil ich reise. Niemand anderes tut das, niemand. Alle kümmern sich um ihr Leben, tragen Verantwortung, planen im voraus. Ich bin jetzt 41. Und was habe ich vorzuweisen? Ein interessantes Leben bislang, keine Frage. aber vielleicht ist das schon sehr viel, nur zählt das in der heutigen Zeit, in der eher in Summen gemessen wird als in Bauchgefühl, wenig bis gar nichts. Noch immer bin ich zerrissen zwischen den bürgerlichen Werten und der Kunst an sich. Zwar bin ich alles andere als ein bürgerlicher Künstler, doch kann ich mich der Welt der Anderen nicht entziehen. Es gibt Stunden, da lache ich über das Übermaß an Sicherheit, das andere anstreben. Ohne dabei übrigens angstfrei zu sein, das ist ein wirkliches Phänomen. Je mehr Menschen besitzen, desto größer wird die Angst. Ich sehe es gerade an meinem Bruder, der sicher bereits eine halbe Millionen Euro auf verschiedene Besitztümer verteilt hat, sich aber beinahe ins Hemd macht, weil er einen kleinen Kredit für ein weiteres Haus abbezahlen muss. Es ist sein Paket, das er zu tragen hat. Aber eigenartig ist es schon. Müsste sich solch ein Mensch nicht gemächlich zurücklehnen und die Welt passieren lassen, in dem Wissen, dass er seinen Teil bereits erfüllt hat? Dass er das Gefühl, Pleite zu sein, im Grunde niemals in seinem ganzen Leben haben wird? Ich weiß es nicht. In jedem Fall verhält er sich nicht so.

Trotzdem muss ich spätestens übermorgen eine endgültige Entscheidung treffen. Ich könnte bis in die Toskana fahren, was sind schon läppische 500 Kilometer? Oder in die Schweiz zu meiner Schwester. Noch immer habe ich diesen Gedanken nicht ganz aufgegeben. Um fair zu sein, dieses Problem kenne ich. Es gibt keine Ideallösung, denn auf irgendetwas muss ich in jedem Fall verzichten. Aber etwas werde ich unternehmen, und am Ende zählt nur das.
Es waren sehr nachdenkliche zwei Tage. Trotzdem habe ich sie genossen, denn auch das gehört zu meinem Leben, das wohl niemals leicht werden wird. Aber wer will das schon?