Voll Carpe Diem

Sonntag.
Der erste, seit vielen Wochen, an dem ich mal etwas machen konnte, das sich nicht auf die allernächste Umgebung von Tempelhof beschränkte.
Dabei begann der Tag alles andere als gut. Die Arbeit der letzten Tage forderte ihren Tribut. Ich bin es eben eigentlich nicht gewohnt, draußen körperlich zu arbeiten. Weichei eben. Städter aus Leidenschaft mit Hang zur Gartenarbeit (und Gartendesign, um es mal vornehm auszudrücken).
Also schälte ich mich um sieben aus dem Bett und war nicht ganz sicher, was ich heute machen sollte. Gestern noch hatte ich getönt. Radtour, mal abspannen und raus in die Natur. Es sah nicht danach aus. Zwar schien die Sonne, doch war es ziemlich kalt, für mich immer eine gute Ausrede, etwas gar nicht erst anzufangen. Ist eben kalt. Kann man nichts machen.
Klingt doch plausibel, oder?
Naja.
Dachte ich mir dann auch.
Nachdem ich die erste Stunde Inforadio gehört hatte und danach richtig deprimiert war, ein Experte ist der Auffassung, dass es einen Impfstoff frühestens nächstes Jahr geben werde. Realistischer ist allerdings eher 2022 oder 2023. Wenn überhaupt, steht ja alles nicht fest. Herrliche Aussichten.
Solch schlechte Nachrichten waren dann der Ansporn, mal den Tag zu nutzen.
Carpe Diem.
Mehr muss ich nicht sagen.

Um zehn dann war ich auch aufbruchbereit.
Einfach losfahren, auf altbekannten Wegen. Es musste gar nichts Großartiges sein, so etwas gibt es hier ohnehin nicht. Aber kleine Perlen finde ich eigentlich immer, Sehenswertes, das man nicht sehen muss, wenn man nicht will, das man aber sehen kann, wenn man sich ein wenig mit der Gegend auseinandersetzen will.
Ich dachte darüber nach, nach Halbe zu fahren. Aber das wäre wohl in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Stichwort Kessel von Berlin. Hier fand eine der letzten großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs statt. Nicht dass es 45 noch Zweifel am Ausgang des Krieges gab. Trotzdem wurde nochmals Widerstand gegen den einrückenden Russen geleistet. Tausende Tote. Auf beiden Seiten.
Nein.
Keine Lust auf Friedhöfe und aussichtslose Schlachten.

Münchehofe. Gläserne Molkerei. Ja, das war es. Eine nette kleine Tour, 20 Kilometer hin und zurück durch den Wald. Prieros war das erste Ziel. Eine der kleinen Städte, in denen man selten lange bleibt. Manchmal stellen Leute Stände mit Selbstgemachtem vor die Tür, Marmelade, Honig, im Herbst Kürbisse und Kartoffeln. Aber alles, was ich fand, war ein Bücherstand. Ich nahm eine Biografie über Brecht mit. Mal sehen. Leichte Lektüre zum Einschlafen.
Ab Prieros ging es dann recht schnell Richtung Wald.
Eigentlich eine schöne Strecke, nicht gerade leicht zu ballancieren, weil sehr sandig und manchmal steinig. Aber nett. Ich war ja nicht auf der Flucht.

Münchehofe erreichte ich dann schneller als gedacht. Kühe auf der Weide begrüßten mich, eine kam mir sogar entgegen. Wahrscheinlich ein schon größeres Kälbchen. Freilebende Rinder. Selten heutzutage, aber nicht hier, in der biologisch arbeitenden Molkerei. Die Milch habe ich sogar schon in Berlin gesehen. Den Käse allerdings noch nicht. Vielleicht in einem Bio-Laden? Wie pfiffig ich doch manchmal bin.
Ansonsten war alles zu, auch der kleine Laden mit dem einmaligen Käse. Ich hatte auf einen Espresso gehofft. An Wochentagen haben sie geöffnet. Sonntag nicht. Logisch eigentlich.
Weil ich nicht sofort wieder aufbrechen wollte, schaute ich mich hier ein bisschen um.
100 Meter hinter der Molkerei fand ich ein gewaltiges Gebäude. Ich würde es als kleines Schloss bezeichnen, Brandenburger Art, also recht schmucklos, aber verwunschen. Es zerbröselt leider.
Der Putz fällt ab, so dass man sieht, dass die Eingangstür früher sicher mal eher ein Tor gewesen ist, mit Treppenaufgang. Es ist nichts dergleichen erhalten.
Meine Fantasie aber war geweckt. Ich muss mich erkundigen, was es mit dem Gebäude auf sich hat. Wahrscheinlich war es ein einstmals reicher Landsitz. (Nachtrag: Es handelt sich wirklich um ein Schloss. Oder um ein Herrenhaus. Oder um einen Gutshof, aber die Unterschiede sind wohl nicht so groß hier. Trotzdem ein Jammer, dass es so schlecht erhalten ist)
Ich kann immer nicht anders als zu vergleichen. Würde so eine kleine Perle in England derartig verkommen? English Heritage, National Trust, irgendwer würde sich bestimmt darum kümmern und herrichten, damit Leute wie ich diese Kleinode dann besichtigen könnten.
Es gibt in der Gegend so viele dieser Gebäude. Das traurigste Beispiel ist das Schloss in Schenkendorf, das zwar ein „Investor“ vor einigen Jahren gekauft hat, aber nichts macht. Heißer Abriss vielleicht? Es hat schon gebrannt. Ansonsten wartet er, bis dieser prächtige Bau eines jüdischen Zeitungsverlegers aus dem 19 Jahrhundert von selbst einstürzt.
Aber ich will mich nicht aufregen.
Inzwischen schien die Sonne, es war angenehm warm, ohne brüllend heiß zu sein. Ich fuhr jetzt in Richtung Hermsdorfer Mühle weiter. Einige Ausflügler kamen mir entgegen. Schön.
Auf einem ehemaligen Panzerweg radelte ich zurück nach Prieros, dann weiter nach Gräbendorf.
Im Grunde war es das schon.
Zwar arbeitete ich noch ein wenig, stellte einige Betonplatten her, aber mein Aufenthalt neigt sich dem Ende entgegen.
Morgen geht es erst einmal zurück nach Berlin.
Ich überlege, ob ich ein wenig öfter und auch mal länger hierher fahre. Wie ich gerade merke, geht das Schreiben auch hier.
Warum auch nicht?
Ich konnte früher immer in meinem Wohnmobil arbeiten, habe ganze Romane dort geschrieben. Das ginge auch im Garten.
Werde mal mit Ehefrau Nina darüber sprechen. Urlaub gibt es dieses Jahr sicher nicht, zumindest nicht außerhalb von Berlin/Brandenburg.
Also nutze ich den Tag.
In diesem Fall unser Grundstück.
Mal sehen, ob Ehefrau Nina auch mal ein paar Tage herkommen möchte.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.