Voll gesellschaftslos
Und jetzt ist alles zu.
Es ist schlimmer als im Frühjahr, die Zeit des ersten Lockdowns. Und das in mehrfacher Hinsicht. Natürlich ist diese Aktion überfällig, zu viele Tote, fast schon 1000 pro Tag, mit vollen Intensivstationen und, so wie seit heute in Sachsen, Triagen, also Entscheidungen, wer behandelt wird und wer nicht. Es ist wie in Italien im März, tödlich, grausam. Und auch ein bisschen unnötig, wenn man bedenkt, dass diese Entwicklung vor einigen Wochen bereits absehbar war. Natürlich ist so etwas in einer demokratischen Gesellschaft immer ein Balanceakt zwischen individuellen Freiheiten, wirtschaftlichen Aspekten, auch politischen Mehrheiten und gesundheitspolitischen Notwendigkeiten. Doch der Versuch, an die Vernunft der Menschen zu appellieren, sie an ihre Ratio zu erinnern, damit die Gesellschaft sich selbst mental und gesundheitlich heilen kann, muss von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Dazu ist sie viel zu lose, vielleicht sogar, frei nach Margaret Thatcher, gar nicht existent. Es gibt nur das Individuum, das egoistisch handelt und dabei vielleicht noch sein näheres Umfeld, also die Familie und enge Freunde, in seine Entscheidungen einbezieht. Ein Handeln also zum Wohle aller Menschen in einem Land gibt es demnach nicht. Und, auch wenn das kein wissenschaftlicher Beweis ist, diese Pandemie ist das beste Beispiel für die Richtigkeit der These. Die Leute wollten auf nichts verzichten. Nicht jetzt im Winter zu Weihnachten, nicht im Sommer, als Reisende das Virus zu Tausenden wieder mitbrachten.
Das ist der Grund, warum wir jetzt die schlimmsten Zahlen Europas vorweise können. Und das ist auch der Grund, warum der Lockdown dieser Tage tiefer geht als im Frühjahr. Das Volk hat es als Gesamtheit nicht begriffen. Und wird es auch nie begreifen. Es ist ein Armutszeugnis für eine aufgeklärte, gut gebildete Gesellschaft, die anscheinend nicht so existiert, wie wir das alle gerne hätten.
Also musste uns jemand die Entscheidung abnehmen, uns sagen, was wir ab jetzt tun dürfen und was nicht. „Nanny-State“ nennt man das. Dabei haben unsere verantwortlichen Politiker lange gezögert, das zu tun. Uns vorzuschreiben, was gut ist und was nicht. Sie haben lange auf uns gewartet. Und, so muss ich es sagen, sie haben die Geduld verloren. Angesichts der vielen Toten ist das kein Wunder.
Alles, was jetzt geschieht, haben wir uns selbst zuzuschreiben. Auch wenn ich Zweifel daran habe, dass die Gesellschaft als solche existiert, so haben wir als Individuen dennoch versagt. Millionenfach eben. Die Auswirkungen sind dabei dramatisch.
Denn nicht nur sind fast alle Geschäfte zu. Dieses Mal sind auch Baumärkte betroffen, was somit ebenfalls fast sämtliche Handwerksbetriebe lahmlegen muss. Denn die Materialien können nicht mehr gekauft werden.
Schon heute, am ersten Tag des neuen Lockdowns, ist es draußen ziemlich leer. Leute sind kaum noch unterwegs, auch Autos sehe ich kaum noch. Auch das war im März so. Der Unterschied jetzt: Es ist Winter. Die Dunkelheit breitet sich 16 Stunden am Tag wie eine stählerne Wand vor mir auf, undurchdringlich und feindselig. Es ist kalt und verregnet. Und ich sitze hier drinnen und habe kaum noch Lust, mich zu bewegen. Die Aussichten, die nächsten vier Monate hier eingesperrt zu sein, wiegen heftig auf mir. Erst heute Morgen bin ich mir der Tatsache bewusst geworden, wie sehr mich das eigentlich belastet. Ich kann nicht in den Garten nach Brandenburg, um dort auszuspannen und mal etwas anderes zu sehen. Ich sitze hier im Büro. Und werde immer träger. Auch wenn ich wieder an einem Roman schreibe, ist das keine besonders gesunde Existenz im Augenblick.
Irgendwie aber hoffe ich, heil aus dieser Sache herauszukommen. Merkel ist heute mit einem Zettel gesehen worden, aus dem hervorging, in welcher Reihenfolge geimpft werden soll. Demnach wäre ich unter den unter 60jährigen (au man) mit Vorerkrankungen. Und irgendwann an achter Stelle an der Reihe.
Nun ja, wann das geschehen wird, weiß ich allerdings auch nicht.
Hoffen wir, dass es nicht zu lange dauert.
Ich habe noch ein paar Sachen vor.
Und die werden mit jedem Tag, den ich hier sitze, irgendwie eiliger.
Rational ist das auch nicht. Aber warum sollte ich hier der Einzige sein, der plötzlich vernünftig ist?
(wer hier etwas Sarkasmus entdeckt, darf ihn behalten)