Voll normal? Nee.

Es geht mal wieder um Corona.
Aber eigentlich eher um Politik.
Beide Themenbereiche sind derartig miteinander verbunden, dass man nicht einmal den Versuch unternehmen sollte, sie voneinander zu trennen. Besonders hier, in westlichen Demokratien. Anderswo sieht es anders aus.
Hier aber wird gerungen. Und zwar darum, was für die Gesellschaft das Beste ist.

Natürlich kann man einen vollständigen Lockdown während einer Pandemie befürworten. Mitsamt Ausgangssperre, geschlossenen Schulen und Geschäften. Und Besuchsverboten aller Art. Pandemiebezogen macht das vielleicht sogar Sinn. Aber die Pandemie ist nun einmal nicht der einzige Aspekt während dieser Krise. Der oft zitierte Vergleich aus dem medizinischen Bereich kann hier helfen:
„Operation gelungen, Patient tot.“
Und das ist es, was wir alle noch bedenken müssen. Wenn wir Maßnahmen wählen, die den Stoff, aus dem unsere Gesellschaft besteht, zerreißen, wird es uns nichts nutzen, wenn wir das Virus überstanden haben. Denn dann ist da nichts mehr, auf das wir unser Leben aufbauen können.
Natürlich geht es dabei auch um die Wirtschaft. Und um soziale Kontakte.
Aber es geht auch noch um viel mehr.
Nämlich um unser gesamtes politisches System.
Und das hat sich gestern als ziemlich robust erwiesen.

Kurz eine Zusammenfassung:
In den letzten Tagen ist ein Maßnahmenkatalog der Bundesregierung durchgesickert. Ein ziemlich drastisches Papier, mit stärkeren Einschränkungen, mit weiteren Eingriffen in das Schulsystem und auch in Quarantäneregeln.
Es waren gar nicht unbedingt die Maßnahmen selbst, die für Empörung bei mir gesorgt haben. Sondern die Art und Weise, wie das alles geschehen ist.
Man muss bei der Bundesrepublik Deutschland wissen, dass sie vor allem eines ist: eine Bundesrepublik. Das heißt, sie besteht aus Bundesstaaten. 16 an der Zahl. Und hier liegt das ziemlich große Detail: In Deutschland sind die Bundesstaaten für die Maßnahmen gegen das Virus zuständig, beziehungsweise deren Ministerpräsidenten. Jeder für sich. 16 davon. Jeder entscheidet allein für sein jeweiliges Bundesland.
Wer definitiv nicht zuständig ist: die Kanzlerin.
Und das ist ihr gestern in der Runde aus Ministerpräsidenten der Länder deutlich klargemacht worden. Denn keiner der Ministerpräsidenten war begeistert von der selbstherrlichen Art aus dem Kanzleramt.
Und das ist auch der Grund, warum bei diesem Treffen so gut wie nichts herausgekommen ist.

Diese Geschichte ist nicht nur ein PR-Desaster. Was es natürlich auch nicht.
Es ist ein Desaster für uns alle. Denn der Föderalismus, die praktische politische Gewaltenteilung der Exekutive, ist viel wert. Wir werden eben nicht nur von einer Kanzlerin regiert. Bei uns haben die verschiedenen Regionen durch ihre Länderparlamente erhebliches Mitspracherecht. Und das wäre es gewesen, was bei uns gestern beinahe zerrissen worden wäre.

Wie wir jetzt wissen, kam es anders. Die Kompetenzen sind letztlich nicht überschritten worden. Aber der Preis war hoch.
Denn dadurch, dass keine Einigung zustande kam, werden wir ihn alle bezahlen müssen. Durch mehr Corona-Fälle. Durch mehr Corona-Tote.
Ich hoffe daher inständig, dass die nächste Gesprächsrunde besser wird. Dass alle ihre Lektionen aus diesem innerdeutschen Machtkampf gelernt haben.
Die Verlockung ist ja besonders während einer Krise hoch, demokratische Strukturen … sagen wir … zu vereinfachen. Und vielleicht zu einem System zu machen, wie es in Frankreich oder Großbritannien besteht. Doch ein Blick zu unseren Nachbarn herüber zeigt: Dort funktioniert die Corona-Politik eben wesentlich schlechter. Weil Regionen kaum Mitspracherecht haben. Dort wird in No. 10 Downingstreet bzw. im Élysée-Palast entschieden. Mit teilweise haarsträubenden Konsequenzen für abgelegene Länder und/oder Regionen in diesen Staaten.
Das möchte ich hier nicht. Wir funktionieren dezentral. Und demokratisch. Das Ringen, unterschiedliche Meinungen, Widerspruch. Und am Ende Kompromisse gehören dazu. Und die dürfen auch jetzt nicht unterbunden werden. Gerade jetzt nicht.
Irgendwann einmal, wenn dieses Virus besiegt ist, wird man mit dem Brennglas auf diese Zeit schauen. Und dann hoffentlich sagen können: Das System war stark und intakt.
Und die Gesellschaft mit ihr.