Voll normal anders

Der zweite Corona-Monat ist vorbei. Und, wie es aussieht, ändert sich so schnell nichts an der Situation. Doch alles um uns herum verändert sich mit rasender Geschwindigkeit.
Denn auch wenn die Bedrohung durch den Virus durchaus noch gegeben ist, haben wir uns alle ziemlich schnell darauf eingestellt. Es ist nichts Besonderes mehr, in Läden einen Mundschutz zu tragen. Nicht nur das, es ist auch illegal. Ich kann mich daran erinnern, wie es am Anfang war. Ich habe ziemlich früh welche genäht, dann natürlich auch getragen. Menschen waren damals schockiert. Heute nicht mehr, es gehört praktisch zum Leben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Dinger schon zu modischen Accessoires geworden sind. Warum auch nicht?
Restaurants und Cafés haben schon wieder geöffnet. Ich bin gespannt, wie sich das alles entwickelt. Wir werden die Lage abwarten, in einigen Wochen werden wir sehen, ob die Ansteckungszahlen explodieren. Wir könnten Glück haben, aber nur, weil das Wetter besser ist und alle Menschen draußen sind. Das Ansteckungsrisiko ist in geschlossenen Räumen sicher größer. Also geht es vielleicht, wenn man draußen sitzt. Auch das wird für uns bald Normalität sein, wir werden wieder ausgehen und dinieren oder Kaffee trinken. Nur mit etwas mehr Abstand zueinander. Und uns dabei ebenso beäugen und uns zeigen wie vor der Krise.

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, keiner von uns mag Veränderung, ein scheinbarer Widerspruch zum Leben an sich, das ständig mit Veränderungen aufwartet. Natürlich gewöhnen wir uns daran, aber es braucht immer etwas Zeit. Gerade in dieser Krise aber krachten die Änderungen über uns hinein wie ein prasselnder Sommerregen, urplötzlich und ohne Ankündigung. Und trotzdem werden wir damit umgehen. Jetzt, nach zwei Monaten, können wir uns alles wieder Stück für Stück zurückholen, dabei aber wahrscheinlich etwas ausmisten. Einiges davon werden wir nicht mehr brauchen. Meine Prognose: Das Arbeitsleben wird sich in der Zukunft zwar auch wieder in Büros abspielen, aber weniger als zuvor. Warum auch nicht? Wie viele Menschen haben gelernt, dass sie den Arbeitsalltag auch anders bewältigen können. Und sie sparen noch eines, das noch viel wertvoller ist als Geld:
Zeit.
Die An- und Abfahrt zum Büro kostet. Diese Zeit wird aber fast vollständig der Freizeit zugesprochen. Ein Riesengewinn, der bislang meist unerwähnt bleibt. Natürlich muss man diesen Gewinn auch zu nutzen wissen.
Ich gebe zu, dass das wahrscheinlich nur auf Menschen ohne Kinder zutrifft. Aber wenn die Schulen und die Kindergärten wieder öffnen, werden auch die Eltern profitieren.
Diese Abwesenheit in Bürogebäuden kann noch ungeahnte Auswirkungen haben. Die Frage nach der Krise wird lauten: Wie viel Platz brauchen wir eigentlich noch in dieser neuen Arbeitswelt? Muss eine Firma mit hundert Angestellten wirklich auch hundert Arbeitsplätze zur Verfügung stellen oder reichen vielleicht 40, für die zwei Tage (Beispiel), die man doch noch ins Büro fährt? Platz ist in einer Stadt wie Berlin ja Mangelware. Wenn Wohnplatz und Arbeitsplatz nun in vielen Bereichen gleich sind, könnten wir diesen Platz auch neu verteilen. Wohnungen brauchen wir schließlich immer.
Nur so ein Gedanke.

Dass auch die Innenstädte sich verändern werden, ist schon jetzt zu beobachten. Wahrscheinlich ist die Krise der letzte Schritt in Richtung Online-Sales. Karstadt macht die Hälfte seiner Filialen dicht. Ich erwähne das deshalb, weil unser Kiez eigentlich nur durch das altmodische Kaufhaus am Leben erhalten wird. Menschen sind dort eben ab und zu unterwegs. Ich habe allerdings keine Zweifel, dass es in naher Zukunft nicht mehr existieren wird. Es kann eigentlich nicht rentabel sein. Die Frage, was dann mit dem Kiez geschieht, ist mir allerdings unangenehm. Leider hat sich hier eine Klientel breitgemacht, die vor noch ca. zehn Jahren eher in Neukölln ansässig war. Aufgrund des rechtlichen Drucks dort haben sich die Clanstrukturen verlagert, und zwar etwas weiter nach draußen. Shisha-Bars, Billig-Friseure, vor allem aber Wettshops haben sich ausgebreitet wie die Pilze. Ich befürchte, dass das so weitergeht. Statt netter Cafés und Restaurants also Geldwaschanlagen der organisierten Kriminalität.
Nicht sehr prickelnd. Aber das kann anderswo natürlich anders sein. Ich denke jedenfalls, dass alle Geschäfte, die nicht auch extensiv Online-Handel betreiben, nicht mehr lange existieren werden. Karstadt ist nur ein Beispiel, wenn auch ein prominentes.

Corona hat aber auch noch andere Effekte. War die Welt vor der Krise ziemlich klein, schließlich konnten fast alle von uns ziemlich günstig selbst die entferntesten Ziele bequem erreichen, wird sie jetzt wieder riesengroß. Wenn ich daran denke, was ich für Schwierigkeiten hatte, auch nur 45 Km nach Brandenburg zu fahren, ein Problem, das jetzt nicht mehr so aktuell ist, muss ich sagen, dass der Gedanke, auch nur ein Bundesland weiterzufahren, schon abstrus erscheint. Und erst das Ausland. Schon in Europa ist es schwierig bis unmöglich. Schengen ist ausgesetzt. Mal sehen, wie lange.
Ich liebe Griechenland, ich liebe Frankreich. Beide werde ich wohl eine Weile nicht wiedersehen. Und es ist mir fast egal. Aber selbst wenn das wieder möglich ist: Aus Europa heraus? Ich bin doch nicht wahnsinnig. Das wird, bis zu einer Impfung, unmöglich sein, viel zu riskant, im Fall der Fälle kein adequates Gesundheitssystem zu haben. Diese Ziele sind unerreichbar, so wie sie in den 50ern und 60ern und auch später noch nur einer winzigen Minderheit zur Verfügung standen.
Wie gesagt, die Welt ist wieder größer geworden. Das muss nichts Schlechtes sein. Denn dann schauen wir vielleicht mal wieder auf das, was uns in unserer unmittelbaren Nähe umgibt.
Das Schöne daran: Wir leben auf einem Kontinent, bei dem das nichts ausmacht. Weil es so viel gibt, das wir entdecken können.
Wir haben schon Glück.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.