Voll traurig

2007 haben Ehefrau Nina und ich einen gewaltigen Schritt gewagt. Nachdem wir uns 2003 in England getroffen hatten und zusammengekommen waren, lebten wir drei einhalb Jahre zusammen auf der Insel.
Aus beruflichen Gründen entschieden wir dann, dass wir zurück nach Deutschland ziehen wollten. Es war keine leichte Entscheidung. England war zuvor sieben Jahre meine Heimat gewesen, bei Nina waren es immerhin vier.
Bei mir, das kann ich sagen, waren es wohl die entscheidensten meines Lebens. England hat mich in fast allen Belangen zu dem gemacht, der ich heute bin, ob man das gut oder schlecht finden mag.

Aber das soll heute nicht das Thema sein. Auch nicht die grauenhafte politische Entwicklung, die mich und die Insel in den letzten vier Jahren endgültig getrennt hat.
Nein.
Es soll die Zeit sein, die wir danach verlebten. Es versprengte uns Anfang 2007 nach Niedersachsen. Ich hatte eine Stelle als Werbetexter gefunden, Nina war bei einem Betrieb untergekommen, von dem ich vergessen habe, wie er hieß. Wir waren im teutonischen Nirvana. In einem kleinen Dorf bei Celle.
Von London also in die Provinz, zurück in ein Land, das ich nicht verstand und von dem ich auch nicht wusste, ob es jemals wieder meines werden würde.
Zu diesen Zweifeln kamen berufliche Spannungen bei uns beiden. Ich merkte schnell, dass ich nicht unbedingt für den Beruf eines Werbetexters gemacht war. Letztlich eine Frage der mangelnden Erfahrung und – vielleicht auch – des mangelnden Interesses.
Bei Nina war es ähnlich. Sie war Teile ihres Tages damit beschäftigt, Schranken für Berufsfahrer zu öffnen. Kaum das, was man als Erfüllung bezeichnen würde.
So also ackerten wir uns voran, schon bald allerdings mit dem Wissen, dass wir uns verrannt hatten. Neue Entscheidungen würden also anstehen.
Zu dieser Zeit fuhr ich noch Auto, mein über alles geliebten Ford Transit, der 2010 für ein Jahr mein Zuhause werden sollte.
Morgens hörte ich auf dem Weg zur Arbeit öfter Hörspiele im Radio.
Es kam vor, dass ich vor dem Büro – mitten im Wald in Winsen an der Aller – eine halbe Stunde parkte, um das Hörspiel zu Ende hören zu können.
Als es bei mir im August beruflich vollends den Bach hinunterging, begannen die Folgen „Im Schatten des Windes“ von Zafon.
Ich weiß es fast noch wie gestern.
Es war so spannend, dass ich des öfteren viel zu spät bei meiner Stelle erschien, was im Grunde egal war, denn mein damaliger Chef tauchte meist nicht vor zwölf Uhr auf. Sonst war sowieso niemand da.
So also hörte ich im Laufe der Zeit das gesamte Hörbuch. Ein schönes Erlebnis, an das ich mich heute erinnere.
Im September fuhren wir in den Urlaub, mit schweren Gedanken übrigens, denn ich hatte meinem Chef ein Ultimatum gestellt. So ging es nicht weiter. Nach dem Urlaub würde sich etwas ändern müssen. Ich und er wussten, dass das nie geschehen würde.
An diesem Tag, als wir abfuhren, lief die letzte Folge vom Hörspiel. Ich zögerte den „Grenzübertritt“ nach Hessen heraus, um es im Radio ganz hören zu können, selbst als der Empfand des Senders langsam begann abzubrechen.
Lange Rede, es war eine solch schöne Geschichte, dass ich natürlich noch das Buch lesen musste. Damals dann schon in Berlin, unserer nächsten Etappe auf unserem Weg.
Es folgten noch mehr Bücher von Zafon, alles tolle Geschichten. Was mich aber am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass es praktisch Reiseführer waren. Reiseführer von Barcelona, das wir Anfang 2010 besuchten.
Einige Monate später kam ich nochmals vorbei, auf meiner Europareise. Ich widmete Zafon einen Tag, versuchte, einige der Orte zu finden, die er erwähnt hatte. Manche fand ich, andere nicht. Kein Wunder, denn es war das Barcelona von vor ca. 100 Jahren.
Später habe ich sogar ein Buch entdeckt, dass das Barcelona Zafons in allen Einzelheiten beschreibt. Ich habe es nie gelesen, war auch niemals wieder da.
Zafon jedenfalls verschwand ein wenig aus meinem Leben. Ich las noch „Marina“, aber das war vor einigen Jahren das letzte Buch von ihm, das ich in den Händen hielt.

Heute hörte ich in den Nachrichten, dass er gestorben ist. 55 Jahre ist er alt geworden, der Krebs hat ihn getötet.
Manchmal trifft man einen Künstler im Leben, der einem zu einer bestimmten Zeit genau das sagt, was man hören muss.
So war es mit Zafon. Dieses Mal waren es keine philosophischen Schriften, keine moralischen Ideen, so wie es meist ist.
Er hat mir ein Stück Leichtigkeit in einer schweren Zeit gegeben. Er hat mich träumen lassen, von einer wundervollen Stadt. Und hat fesselnde Geschichten erzählt.
Viel zu früh ist er gegangen.
Jetzt aber werde ich mir die restlichen seiner Bücher kaufen und sie lesen.
Vielen Dank für alles.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.