Voll rückwärts

Es ist wirklich eine vollkommen unnatürliche Zeit. Zumindest empfinde ich es so.
Es beginnt immer schon morgens.
Alles ist irgendwie langsamer. Zwar wache ich regelmäßig gegen sechs Uhr auf, doch die Tage beginnen schleppend, um es mal gelinde zu sagen.
Meine Morgenroutine aus einer Tasse Espresso, 15 – 20 Minuten Yoga und dann Frühstück dauert immer länger. Manchmal beginne ich erst gegen halb acht mit dem morgendlichen Sport, auf den ich häufig noch nicht einmal Lust habe (zum Glück ziehe ich diese Routine trotzdem durch).
Ich würde diese Inaktivität gerne auf das bewusstere Leben schieben, das ich zu leben meine, doch weiß ich instinktiv, dass das eine Lüge ist.

Ich erinnere mich an einen ehemaligen Dozenten an der Wirtschaftsschule, es muss Ende der 90er gewesen sein.
Sein Name liegt mir auf der Zunge, doch will er sich einfach nicht zeigen. Er war vielleicht Mitte 50. Der erzählte uns mal etwas darüber, wie es ist zu altern. Dass man nicht mehr in die Zukunft sieht, auch die Gegenwart nicht mehr so wichtig ist, sondern dass die Erlebnisse der Vergangenheit anfangen, plötzlich wieder mehr Farbe zu gewinnen. Und das ist es, was mich in den letzten Wochen langsam beginnt zu beschäftigen. Denn ich habe das Gefühl, dass es genau so ist. Statt Pläne zu machen oder die Gegenwart zu genießen, denke ich an Vergangenes. An Menschen, die ich getroffen und wieder verloren habe. An Reisen, längst vergangen, zu Orten, die sich schon vollkommen verändert haben.
Ich glaube, dass es kaum etwas gibt, das mich mehr erschreckt als diese Entwicklung. Weil ich einfach keine Lust darauf habe. Natürlich beeinflusst uns unsere Vergangenheit, oft mehr, als wir uns eingestehen möchten. Doch sind Rückblicke immer schon ziemlich sinnlos gewesen, denn es gibt nichts mehr, das man ändern kann. Die Worte bleiben gesagt, die Taten geschehen, die Menschen verlassen. Und alles war auch irgendwie gut, wie es war, auch wenn es sich manchmal nicht so angefühlt hat, denn es hat uns zu den Menschen gemacht, die wir sind. Und das ist eben einfach so.
Also bleiben diese Rückblicke schlichtweg nutzlos. Sie sind Zeitverschwendung und ich habe das Gefühl, dass sie mich vom Leben abhalten.

Das Problem ist: Ich weiß das alles, kann es aber irgendwie nicht ändern.
Selbst an diesem Blog bemerke ich meine Energielosigkeit und Rückwärtsgewandtheit allmählich, mein letzter Eintrag ist sechs Tage her, anfangs schrieb ich hier noch täglich. Und es ist nicht so, dass ich im Augenblick etwas anderes mache, zumindest nicht viel.
Mein letzter Roman war jedenfalls im August 2019 fertig. Ich habe keinen weiteren begonnen. Es ist keine Schreibblockade, ich fühle mich im Moment nicht in der Lage, mich in die auszehrende Arbeit einer neuen, sicher wieder düsteren Geschichte zu stürzen. Während die Welt um mich herum wankt und im Chaos zu versinken droht, möchte ich der Welt, aber vor allem mir selbst, das nicht antun. Der, der es liest, hat es schwer genug. Aber der, der es schreibt, kann daran zerbrechen. Auch kann der, der liest, einfach aufhören zu lesen. Der, der schreibt, kann das nicht. Zumindest ich nicht. Ich kann ja nicht einmal eine schlechte Netflix-Serie abbrechen.
Closure. You know?
Vielleicht ist es nur eine Phase. Ein weiterer Abschnitt im Leben, durch den ich mich hindurchkämpfen muss.

Jedenfalls möchte ich mich von der Vergangenheit abwenden.
Ich bin zu jung, um mich in ihr zu verlieren. Zur Not auch mit Gewalt.
Der Dozent an meiner Wirtschaftsschule starb übrigens ein paar Monate später, mitten im Semester.
Ich hoffe, dass das kein schlechtes Omen ist.
Aber da ich an so etwas nicht glaube, kann es mir auch egal sein.