Voll wütend
Ja.
Wütend.
Aber nicht ich, auch wenn ich vorsichtig sein muss, mich nicht anzustecken. Denn das ist es, was Wut offensichtlich macht. Sie vermehrt sich wie das Virus selbst, wenn man zu sehr damit in Berührung kommt.
Ich rede von der Wut meiner Mit-Bürger. Gemeckert wird im Grunde seit Beginn der Corona-Krise. Und noch davor, nur waren es andere Beweggründe, zumindest oberflächlich betrachtet. Jetzt aber, ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie, scheint eine wahrhaft majestätische Emotionswelle über uns hereinzuschwappen. Anfangs wurden aus 80 Millionen Bundestrainern 80 Millionen Virologen. Jetzt werden daraus 80 Millionen Lockdown- und Pandemie-Experten. Fakten und das, was manche dafür halten, werden heiß diskutiert, meist natürlich ohne echte Experten, was dazu führt, dass Leute schnell damit beginnen, sich zu beschimpfen. Auch online ist das erst einmal spaßig, auf der anderen Seite nimmt es aber schon beängstigende Formen an.
Die Erkenntnis, dass die Bundesregierung alles falsch gemacht hat, wird dabei von beiden Seiten geteilt, den einen gehen oft die Beschlüsse nicht weit genug, der anderen viel zu weit. Die Mitte aber, in denen sich normalerweise die meisten Personen aufhalten, ist weitgehend still und, wie es scheint, in der Minderheit, wobei das diskutabel ist. Zufrieden scheint niemand, also sind fast alle wütend. Und darin liegt die Gefahr.
Ich nehme es so wahr, dass im Augenblick einfach nur geschimpft wird. Vollkommen gleichgültig, was geschieht, sofort geht das Gezeter los. Ich würde es fast schon als hysterisch bezeichnen. Dabei gäbe es einiges ernsthaft zu diskutieren. Die meisten Themen würden dementsprechend von etwas Abstand profitieren. Und von Leuten, die sich wirklich auskennen, also Experten. Doch diese kommen immer seltener zur Sprache. Von Professor Drosten hört man immer weniger, auch andere äußern sich immer seltener. Ich befürchte, dass wir uns in dieser Spirale der Wut auf dem Weg nach unten befinden. Zu langsam, zu schnell, zu viel, zu wenig, man scheint es niemandem mehr recht machen zu können.
Aus diesem Diskurs möchte ich mich deshalb zurückziehen. Es hat einfach aufgehört, interessant zu sein, so wie Politik im Allgemeinen, sondern ist nur noch toxisch. Die große Hoffnung, die ich weiterhin hege, geht in den hoffentlich bald einsetzenden Impferfolg. Wie gesagt, im zweiten Quartal sollen die Impfdosen eintreffen. Wenn das nicht geschieht, befürchte ich hier unangenehme gesellschaftliche Entwicklung, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte. Schon jetzt wirkt dieses Land auf mich eher wie ein Pulverfass.
Der Witz dabei ist: Trotz des Ärgers und des Gezeters gewinnen die progressiven Kräfte in Deutschland an Fahrtkraft. Umfragen zufolge könnte es im September eventuell zu einem linksgrünen Bündnis kommen. Vielleicht also ist es gar nicht so, wie es scheint? Vielleicht ist die Welt eben nicht hysterisch geworden, sondern nur einige wenige, die besonders laut sind? Die Stillen aber wählen auch. Und die wählen zunehmend echte Alternativen, die jenseits der derzeit von der Corona-Diskussion bestimmten Debatte zulegen.
Ich muss mich also trotz allem gedulden. Denn vielleicht kommt mit den Impfungen dann auch endlich ein politischer Richtungswandel, der im Grunde weltweit notwendig ist. Und den wir, nach einem zugegebenermaßen chaotischen Jahr, global anführen könnten. Vielleicht sogar mit einer grünen Kanzlerin.
Man wagt es gar nicht hoffen.