Voll Abschied

Wir haben Nachbarn.
Das alleine ist sicher keine wirkliche Meldung wert. Schließlich hat die ja jeder.
Trotzdem haben wir sie auch.
In Gräbendorf handelt es sich um ein altes Paar, das in wilder Ehe alt geworden ist. Beide sind weit über 80. Während er immer mit Rat zur Seite steht, gefragt oder ungefragt, ist sie stiller.
Aber wehe wenn sie dann doch mal in Fahrt kommt.
In den letzten Jahren ist vor allem sie schon einige Male dem Sensenmann von der Schippe gesprungen. Eine bösartige Borreliose hat sie überlebt, schwerbehindert und mit der Aufgabe, wieder neu sprechen lernen zu müssen.
Sie hat es gemeistert, auch wenn eine gewisse Gesichtslähmung geblieben ist.
Dann wurde während eines Routinebesuchs im Krankenhaus Ende 2018 ein Tumor in der Niere entdeckt. Gerade noch rechtzeitig.
Die ganze Niere wurde entfernt.

Frau Nachbarin ist jedenfalls diejenige, die für den prächtigen Garten nebenan verantwortlich ist. Ich weiß gar nicht, wie viel Arbeit in diesem Grundstück steckt, das sicher 1200 m2 groß ist. Im Sommer jedenfalls blüht alles. Es erinnert mich immer ein bisschen an einen englischen Cottage Garden.
Gestern jedenfalls gab sie mir, am Zaun, immer mit Corona-Abstand, eine kurze Zusammenfassung zur Entwicklung des Gartens. Es ist auch immer eine Erzählung über das Leben in der DDR, das man sich heute kaum noch vorstellen kann.
Sie erzählte über Hunderte von Tulpen, die sie vor Jahrzehnten mal angepflanzt hatte. Oder von ihrer Mutter, die das Land bewirtschaftet hat. Von 12 Zentnern Kartoffeln war die Rede. Und zwei Zentnern Zwiebeln, säckeweise Möhren. Und was weiß ich noch alles.
Dann gab es mal Rosen. 60 Stück. Ihr damaliger Lebensgefährte kannte sich wohl bestens aus. Es muss eine unglaubliche Pracht gewesen sein.

Es wird schnell klar: Der Garten ist ihr Lebenswerk. Viele Jahrzehnte Arbeit und Entwicklung stecken darin.
Nun aber hat sie sich übernommen.
Da sie sich nach der Nieren-Op nicht geschont hat, kam es zu einem Narbenbruch. Es muss eine fiese Angelegenheit sein.
Die Ärzte wollten sie schon im Juli erneut operieren, was sie abgelehnt hat. Wer soll sich schließlich um den Garten kümmern? Anfang Oktober, der neue Termin, steht bereits fest.

Ob sie ins Krankenhaus geht, bezweifelt sie jedenfalls. Als sie mir das erzählte, sah sie sehnsuchtsvoll auf den Garten, der sich noch in voller Blüte befindet.
Ich habe es in diesem Augenblick verstanden.
Sie nimmt Abschied.
Abschied von einer Aufgabe, die sie Jahrzehntelang ausgeführt hat. Aufgabe ist nicht das richtige Wort. Eher Erfüllung. Oder Lebensplan. Es wird ihr langsam klar, dass es bald nicht mehr gehen wird, dieser Arbeit nachzukommen.
Sie macht sich Gedanken, was daraus werden soll. Aber das kann ihr niemand beantworten. Ein Garten wie dieser bedeutet Aufopferung. Nur die Motiviertesten unter uns würden ihn in dieser Gestaltung erhalten können.

Ich jedenfalls hatte den Eindruck, dass sie weiß, dass dieses Jahr das Letzte sein wird, in dem sie sich kümmern kann. Ein Danach wird es kaum geben.
Es ist ein Abschnitt, der schmerzhaft ist. Mehr als ein Ende eines Lebensabschnitts.
Und hier passt dann die Analogie ziemlich gut:
Der Winter kommt. Die Blumen sterben ab.
An diesem Kreislauf werden wir nie etwas ändern können.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.