Voll Schlag auf Schlag
Es war eigentlich unglaublich.
So lange ist kaum etwas passiert. Die Tage flossen dahin, wir waren mit Warten beschäftigt. Warten auf bessere Inzidenzen, Warten auf Impfung, Warten auf eine Art Normalisierung des Lebens. Alles ist ja bislang irgendwie auf Abruf, die unsichere Lage, an die wir uns sicherlich gewöhnt haben, zwingt uns letztlich alle, nur mit vorsichtigen Tippelschritten durchs Leben zu gehen.
Und damit könnte es nun wirklich in naher Zukunft vorbei sein.
Aber ich greife vor.
Nur zur Erinnerung: Wir haben Impfcodes bekommen. Weil wir als Pfleger für Schwiegermutter Ellen eingetragen sind. Es klingt skurril, wenn nicht gar grausam, dass ihre Krankheit, ihr Leid und die Qual des Lebens mit COPD uns jetzt eine Impfung bescheren kann, aber so ist es. Ich frage mich dabei, wie aus etwas so negativem etwas positives entstehen kann und ob man das überhaupt so bezeichnen darf. Aber das kann man sich nicht aussuchen. Schwiegermutter Ellen nicht die Krankheit, wir nicht die Tatsache, dass wir Pflegende sind. Könnten wir wählen, würden wir uns sicher wünschen, dass Ellen nicht krank wäre. Und wir eben noch etwas länger auf die Impfung warten müssten.
Die Impfung.
Ja, das Drama dieser Tage. Das „Impfdesaster“, eine jener Wortschöpfungen, mit der die hiesigen Wutbürger unsere Impfkampagne bezeichnen. Ein Erste-Welt-Problem, denn es gab Länder außerhalb der EU, die schneller geimpft haben als wir. Nicht viele, aber einige, so dass der ewige Neid besonders der Deutschen ganz offen zutage treten konnte.
Aber das ist sicher ein eigenes Thema. Eines, von dem auch ich mich habe manchmal anstecken lassen. Was jetzt keine Entschuldigung sein soll.
Zurück zum Thema Impftermine. Wir haben Termine gebucht, Mitte/Ende Juni. Mit der zweiten Impfung Ende Juli. Noch viele Wochen also bis zur Freiheit. Letzten Montag hatten wir sie gebucht, schon das war ein Krampf sondergleichen. Stundenlang haben wir auf der Webseite versucht, frühere Termine zu ergattern, was möglich schien. Und am Ende auch möglich war, denn wir haben sie ja bekommen.
Gestern dann habe ich die Webseite mal aus Neugier geöffnet. Nur um mal zu sehen, ob sich etwas geändert hatte. Ich habe das auch in der letzten Woche manchmal getan, denn ich hatte immer den Eindruck, dass diese Termine allgemein eher „konservativ“ vergeben werden. Dass also immer wieder welche hinzukommen würden, wenn die Impfzentren mehr Impfstoffe bekommen würden.
Und so kam es, dass wir am Flughafen Tegel Termine Mitte Mai fanden.
Es waren viele, Hunderte Termine, zu jeder Tageszeit. Wir kämpften kurz mit dem Sicherheitsgedanken, ob wir unsere weit entfernten Termine kündigen sollten, um neue zu buchen. Letztlich taten wir genau das. Es war eine Aktion, die schon mit etwas Herzklopfen verbunden war, denn wir wussten letztlich nicht, ob unsere Impfcodes jetzt ungültig werden würden. So ein Drama. Wurden sie nicht, alles lief nach Plan.
Im gleichen Zuge kontaktierten wir Handwerker Klaus, der auch auf eine Impfung wartet. Ich weiß nicht, ob auch er schon einen Termin hatte, ich glaube aber schon, auch weit entfernt, irgendwann im Sommer.
Und seine Lebensgefährtin, Übersetzerin Kristina, rief Ehefrau Nina an, um ihr mitzuteilen, dass er einen Termin am heutigen Montag im Wedding ergattert hatte. Anders kann man es wohl nicht bezeichnen. Allgemein nicht.
Tatsächlich erschien uns plötzlich der Mai-Termin als unwürdig. Was uns vor einer Stunde noch als traumhaft vorgekommen war, stellte sich nun als zweite Wahl heraus. So kann es gehen.
Das Problem aber war, dass man Termine online nur einmal absagen und neu buchen kann. Danach geht der Impfcode wirklich nicht mehr.
Also riefen wir bei der Impfhotline an. Und stießen auf ein Problem, das sowohl Ehefrau Nina als auch ich sehr gut kennen. Man muss den richtigen Gesprächspartner erst einmal finden. Der Erste war nämlich streng und – wie sich herausstellet – auch inkompetent. Denn er lehnte eine Umbuchung ab, es ginge nicht. Weil angeblich keine Termine im Wedding frei wären.
Einen Augenblick lang stutzten wir, denn wir sahen diese Termine online.
Ganz kurz, für ein paar Sekunden, waren wir geneigt, uns in unser Schicksal zu ergeben. Dann aber riefen wir einfach noch einmal bei der Hotline an.
Binnen weniger Minuten hatten wir einen gemeinsamen Termin.
Im Wedding.
Heute, um 11:45.
Wir werden also heute geimpft. In wenige Stunden. Das zweite Mal dann Anfang Juni. Und zwar mit dem mRNA-Impfstoff Moderne, was neben Biontech auch unsere Wahl gewesen wäre, wenn wir sie denn gehabt hätten, was nicht der Fall war.
Wir werden also sehen, was geschieht. Zum Gluck war Ehefrau Nina gestern Vormittag noch bei Schwiegermutter Ellen, um alle Unterlagen zu besorgen. Wir haben vor dem Termin heute noch etwas zutun, denn uns fehlt noch eine Kopie des Pflegebescheids. Aber das bekommen wir sicher auch noch hin.
Ich werde noch ein Update schreiben, wenn alles vorbei ist.
Ob so oder so.
Es geht voran.
Und das schneller, als wir gedacht hatten.
Update:
Ich glaube es nicht.
Ich glaube es einfach nicht.
Doch, ich kann es glauben. Es hat tatsächlich geklappt.
Wir hatten vor unserem Impftermin noch ein wenig Papierkram zu erledigen. Anamnesebogen, Merkblatt, Pflegebestätigung – alles musste noch kopiert und ausgefüllt werden. Letztlich waren wir trotz allem ungefähr eine Stunde zu früh am Erika-Hess-Stadion im Wedding (oder Mitte?). Also liefen wir noch ein wenig am Kanal entlang und beobachteten die Stadt beim Wachsen. Wir waren schon Monate nicht mehr hier, wahrscheinlich wesentlich länger als ein Jahr, mittlerweile sind hier ganze Viertel entstanden. Und bereits bewohnt. Zumindest teilweise.
Schließlich brachten wir es fertig, unseren Termin fast zu verpassen, weil wir uns zu weit entfernt hatten. Ein strammer panischer Marsch aber brachte uns zum Impfzentrum, wo wir sogar etwas anstehen mussten.
Danach aber funktionierte alles preußisch organisiert.
Zuerst wurden unsere Impfcodes gescannt. Damit waren wir im System. Wir betraten die Eishalle, die jetzt keine war, und wurden gebeten, noch zu warten. Hier arbeiteten Dutzende Menschen, wiesen an, halfen, beantworteten Fragen, alles war bis ins kleinste Detail abgestimmt. Nach einigen Minuten Wartezeit wurden wir nach unten gebeten, sozusagen auf’s Eis, wo jetzt nur Beton war, wo uns der zweite Teil der Prozedur erwartete: die Begutachtung der Unterlagen. Ganz kurz hatte ich den Gedanken, dass wir hier scheitern könnten. Aber nur ein paar Sekunden lang, denn ein junger Mann in einem Cubicle à la Dillbert machte alles fertig, gab uns Laufzettel und Unterlagen.
Dann wurden wir in einen weiteren Wartebereich geleitet. Auch hier standen überall Leute, die halfen und anwiesen. Zackig und effizient, und, vor allem, höflich, kaum jemand hatte kein Lächeln auf dem Gesicht. Wir warteten auf großzügig aufgestellten Stühlen, bis wir nach wenigen Minuten einzeln aufgerufen wurden. Wieder ging die Reise in einen anderen Cubicle. Das Allerheiligste sozusagen. Denn hier fand jetzt die Impfung statt. Eine Schwester gab anscheinend meine Daten in ein Tablet ein, kurz darauf tauchte ein Arzt auf. Nach kurzer Besprechung der eventuellen Nebenwirkungen bekam ich nonchalant die Spritze in den Arm, der Arzt verabschiedete sich und die Schwester führte mich nach draußen, wo ich von einer weiteren Mitarbeiterin in Empfang genommen und in den letzten Wartebereich geleitet wurde. Hier saßen wir noch eine viertel Stunde, dann waren wir draußen.
Es war vorbei. Eine ganze halbe Stunde hatte es gedauert. Organisiert bis ins kleinste Detail, keine Fragen offen. Ich glaube, dass ich selten so baff war. Und so erfreut.
Es ist geschehen.
Wir sind geimpft.
Und in sechs Wochen, nach der zweiten Dosis, sind wir frei.
Es fühlt sich ungemein gut an. Die Schrecken, die Eintönigkeit der letzten Monate, all das hat jetzt ein Verfallsdatum.
Ich glaube es einfach nicht.