Voll tierisch.

Sprachlich haben wir uns vollkommen von unseren besten Freunden im Leben getrennt.
Tiere fressen. Und sie werden getränkt. Auch werden sie trächtig, werfen Junge. Sie säugen. Schließlich verenden sie. Wenn sie nicht vorher gerissen werden.
Oft aber, wenn sie bei uns leben und sehr krank sind, werden sie eingeschläfert, welch Euphemismus.
Wir hingegen essen, trinken, werden schwanger, gebären, stillen. Und sterben schließlich. Worte, die anders sind und doch das gleiche bedeuten, wie bei den Tieren.
Anstatt aber bei schweren Erkrankungen selbst zu entscheiden, wann wir das Leben beenden wollen, haben wir entschieden, es bis zum letzten bitteren Atemzug aushalten zu müssen.
Einmal, nur dieses eine Mal behandeln wir also Tiere besser als uns Menschen. Die Gnade der Selbstbestimmung erhalten wir also auf unserem letzten Weg nicht.
Nicht dass wir sie unseren Tieren geben. Auch hier entscheiden wir, wann es Zeit ist zu gehen.

Was bei Haustieren so lange wie möglich hinausgezögert wird, kann bei Nutztieren hingegen gar nicht schnell genug gehen.
Ich fahre hier in Gräbendorf oft an einer Wiese vorbei. Im Spätsommer, meist im August, ist diese angefüllt mit fröhlichem Geschnatter. Ein Meer von weißen Leibern wogt über das Feld. Man liegt im Gras, geht ein bisschen spazieren, erzählt einen Schwang aus dem noch jungen Leben.
Es handelt sich um eine Herde Gänse.

Ich freue mich immer, sie zu sehen. Regelmäßig kehrt sie wieder, jedes Jahr auf’s Neue.
Und doch ist es nie die gleiche Herde. Immer weiß ich, dass keines dieser Tiere ab ca. Mitte Dezember noch am Leben sein wird. Hunderte Gänse, gezüchtet nur für einen Auftritt im Leben: zu Weihnachten als Festmahl auf unseren Tischen. Was für eine Aussicht.

Schon im August also werde ich wehmütig, wenn ich das spektakuläre Schauspiel beobachte.
Die Gänse wissen nichts von ihrem Schicksal. Ihnen ist nicht bewusst, dass sie sterben werden. Sie wollen es natürlich nicht, aber das ist mehr Instinkt als rationale Entscheidung. Vielleicht ein großes Geschenk, denn sie ahnen nichts davon, was sie eigentlich für einen Sinn im Leben erfüllen müssen.
Und doch geht es den Tieren gut, und zwar im Vergleich mit anderen. Während Gänse meist in großen überfüllten Lagern gehalten und gemästet werden, kaum Platz haben, um dann, schnell aufgefettet, geschlachtet zu werden, ohne jemals das Sonnenlicht gesehen zu haben, können die Gänse in Gräbendorf so leben, wie sie es eigentlich schon immer wollten, ohne das allerdings zu wissen.
Es ist eine Erkenntnis, die mich zwar nicht vollends glücklich macht, doch zumindest ein wenig beruhigt.

Ich frage mich oft, was diese Tiere entscheiden würden. Ob sie kurz existieren möchten, um dann geschachtet zu werden, oder eben gar nicht erst geboren werden wollen, um das alles nicht ertragen zu müssen.
Ich bin mir nicht sicher. Bei dieser Gänse-Herde meine ich, so etwas wie tierisches Glück beobachten zu können. Selbst wenn es nur ein halbes Jahr dauert. Ist es das also wert?
Auf diese Frage habe ich keine Antwort.

Aber ich kann eine andere für mich beantworten.
Ich esse einfach keine Gänse. Überhaupt kein Fleisch.
Ob ich so das Leiden der Tiere, bzw. das Überhaupt-geboren-werden verhindern kann, steht auf einem anderen Blatt.
Ich jedenfalls überlege mir immer, was unsere Katzen davon halten würden, nur zum Schlachten existieren zu müssen.
Die wären nicht amüsiert.
Und doch bestehen ihre Speisen nur aus Fleisch. Nicht einmal Gemüse ist dabei. Wäre es also nicht konsequent, einfach gar keine Katzen zu haben? Sollten wir sie nicht also abschaffen? Aber wie macht man das? Muss man sie nun einschläfern lassen? Und was wäre daran besser, als das, was den Gänsen auf dem Feld in Gräbendorf bevorsteht?
Jetzt muss ich aufhören. Denn jetzt wird es kompliziert.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.