Irgendwo auf der Autobahn bei Aachen
Ich erwachte auf dem Rastplatz nach einer recht unruhigen Nacht. Keine Frage, es herrscht eben Umtriebigkeit an diesen Orten, Menschen kommen an, fahren wieder weg. Doch für diese Umstände war es recht gut. Besonders beim Campen scheint es mir, als dass man am Beginn des Tages immer etwas mehr Zeit braucht, Mensch zu werden, besonders wenn es etwas kühler war. Dann dauern die sonst so eingeübten Handgriffe wie Zähne putzen oder Kaffee machen immer etwas länger.
Für diesen Tag hatte ich mir vorgenommen, bis ins Herz Frankreichs vorzustoßen. Die Fahrt zog sich hin, denn wie üblich war ich zu geizig, mein Geld in die Mautstraßen Frankreichs zu investieren. Ich fühlte mich etwas besser, doch bin ich noch weit entfernt von dem Gefühl der Freiheit, das ich mir vorgestellt hatte. Doch kann man so etwas nicht erzwingen, denn manchmal merkte ich bereits, dass ich mich mehr und mehr von der Routine meiner bisherigen Welt zu lösen begann.
Während der Fahrt hatte ich Gelegenheit, nachzudenken. Einige Ideen hatte ich, so machte ich mir Gedanken über meinen Roman, den ich gerade schrieb und die Tatsache, dass ich nicht so recht in der Story war. Ich ging reichlich mit mir ins Gericht, denn die Ursache daran ist meine eigene Faulheit. Ich bekämpfe sie bereits seit Jahren, ab und zu gewinne ich und habe auch schon viel geändert, besonders durch gewisse Arbeitsroutinen und Ziele, doch eigentlich ist sie immer noch latent vorhanden. Sie hindert mich daran, eine wirklich gute Geschichte zu schreiben. Aber das war nichts Neues.
Ich erinnerte mich an eines der letzten Gespräche mit Nina, in der wir in unserer naiven Art über Wirtschaft diskutierten. Ich sagte vor ein paar Tagen, dass es schade wäre, dass das einzige Wirtschaftssystem, das in dieser Welt so etwas wie Wohlstand und Sicherheit für einen Großteil der Bevölkerung in der westlichen Welt gebracht hat, auf Gier beruht.
Doch tut das nicht jedes System oder besser, scheitert nicht jedes andere System daran? Nina jedenfalls findet das normal und findet auch nichts Verwerfliches daran. Ich kann mich damit jedenfalls nicht anfreunden und auch wenn ich Menschen und deren Motivation, etwas zu tun, nicht ändern kann, funktioniere ich doch anders. Letztlich ist es doch diese Motivation, die uns antreibt, und es muss doch noch etwas anderes als Gier geben. Ich persönlich funktioniere anders, will mich Aufgaben stellen, sie lösen, umsetzen, an den Erfahrungen wachsen, nach Niederlagen aufstehen, Siege feiern, so etwas eben. Dass auch ich dabei ein Auskommen haben muss, liegt auf der Hand, aber es müssen keine Reichtümer sein. Das andere ist wichtiger. Daher habe ich beschlossen, darüber zu schreiben. Nicht schnell, wie meine Romane, sondern langsam. Vielleicht schaffe ich es, das dritte System zu finden, Das System, dass endlich die seichte und unbefriedigende Gier nach Geld, Macht und Aufmerksamkeit ersetzt. Keine Ahnung, ob es mir gelingt, doch ich möchte es probieren. Ich hatte die Vision, dass es genau das sein wird, der wahre Grund, warum ich auf dieser Welt bin, eines Tages den Menschen etwas zu geben, dass ihnen eine Alternative zeigt. (Anmerkung 1. August 2011: Ich habe letztlich nie damit begonnen und denke auch nicht, dass ich es noch tun werde. Die anfängliche Faszination ließ schon nach wenigen Stunden nach. Außerdem glaube ich jetzt, dass es viele Arten von Gier gibt. Meine ist eben eine andere, nichtsdestotrotz genauso verwerflich.)
Ich habe mir noch viel mehr Gedanken gemacht – wozu eine solche Fahrt eben alles gut ist. Denn vor meiner Abreise hatte ich mir vorgenommen, langsam zu reisen. Diese Fahrt als solche zu genießen, zu sehen und zu erleben. Die letzten beiden Tage hatte ich aber genau das Gegenteil von dem getan, ich war durchgebraust, so schnell ich konnte. Ich bemerkte es, als ich Chartres hinter mir ließ, es fiel mir auf, dass ich zuvor auch bereits an Reims vorbei gefahren war, ohne nachzudenken. Reims und Chartres, zwei der beeindruckendsten Kathedralen der Welt hatte ich meinem Fortschrittswahn geopfert. Klerikaltouristen würden mir das nie verzeihen.
Warum habe ich das getan? Ich kam zu dem Schluss, dass es viel mit meinem eigenen Anspruch zu tun hat, Ziele zu erreichen, das war nun mal der Campingplatz in Chinon. Wie närrisch. Ich nehme mir hiermit vor, viel mehr auf meine Instinkte zu hören und anzuhalten, wenn mir danach ist. Ich habe alles dabei, mein Bett, meine Küche, meinen Arbeitsplatz, Bücher, was auch immer, ich bin nicht abhängig vom Ort, an dem ich mich aufhalte. Doch scheint das noch nicht in mein Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Um diese Lektion sofort in mir zu festigen und einzuprägen, spielte das Schicksal mir einen dieser Streiche, den man nicht so schnell vergisst, wenn man etwas bewusster hinsieht.
Denn ich kam nach 13 Stunden, mit etlichen winzigen, viel zu kurzen Pausen, endlich beim Campingplatz an, den ich mir wohlgemerkt extra ausgesucht hatte, da er angeblich bereits geöffnet haben sollte. Hatte er natürlich nicht, vielen Dank, ADAC-Campingführer. Das ist ernst gemeint, denn es zeigt mir, dass ich jetzt öfter einfach mal langsamer vorgehen kann.
In dieser Situation machte ich das Beste daraus und stellte mich einfach auf einen Parkplatz davor, um wenigstens etwas die Camping-Atmosphäre zu spüren. Das war dann eigentlich egal, denn nach einer Fahrt wie dieser konnte ich meine Augen ohnehin nicht lange offen halten. Dass der Winter in dieser Nacht versuchte, mit allen Mitteln zurückzukehren, merkte ich leider erst, als ich bereits gehörig fror. Selbst schuld, wenn man den Schlafsack offen lässt. Was ich ebenfalls nicht beachtet hatte, war die Tatsache, dass ich nicht nur vor einem Campingplatz, sondern ebenfalls vor einem Gymnasium parkte, so dass ich morgens durch das Geschrei von Kindern/Jugendlichen geweckt wurde, die sich wie üblich lautstark Gehör verschafften.
Mein erster Gang führte mich in eine Bar, in der ich jetzt sitze und schreibe. Mal sehen, was der Tag heute so mit mir vor hat….