Voll vergänglich

Ich habe heute einen Artikel in der britischen Online-Ausgabe Independant gelesen.
Keine Top-Story, denn die sind zu pervers, um sie weiter zu verfolgen, aber das ist ein separates Thema, das ich hier weiter umschiffen werde.
Nein, es war ein Artikel über ein Vorkommnis der 1920er. Eine junge Schauspielerin, Virginia Rappe, stirbt im Haus von Roscoe Arbuckle, Ursache Blasenverletzung. Die Vermutung folgte auf den Fuß: Vergewaltigung.
Eine unschöne Geschichte, die nicht ungewöhnlich ist, wäre da nicht der Umstand, dass Arbuckle, Spitzname „Fatty“, einer der erfolgreichsten und berühmtesten Komiker seiner Zeit war.
Schon einmal von ihm gehört? Nicht?
Aber von Charly Chaplin. Vielleicht noch von Buster Keaton, aber da hört es sicher bei den meisten auf. Arbuckle steht auf einer Stufe dieser Stars, seine Berühmtheit damals war ebenso gewaltig wie die seiner noch heute bekannten Kollegen.
Fakt ist: Arbuckle wurde vom Verdacht der Vergewaltigung freigesprochen, aber erst beim dritten Prozess. Seine Darstellung der Ereignisse? Variierend.
Schon damals hatte man es Dank Hearst mit einer aggressiven Pressekultur zutun. Das Wort „Shitstorm“ gab es noch nicht, heute würde man es so nennen. Den bekam aber nicht nur „Fatty“ ab. Auch über Virginia Rappe wurden Falschaussagen veröffentlicht. Eine davon war, dass sie ein Kind geboren und weggegeben hatte. Das stellte sich bei der Autopsie als Lüge heraus.
Was aber für Arbuckle folgte, war Cancel Culture in Reinkultur. Niemand wollte ihn mehr vor der Kamera sehen. Vorbei war es mit den Engagements. Und so wurde aus einem der größten Komiker seiner Zeit ein von Armut geplagter Quasi-Arbeitsloser, der mit 46 an Herzversagen starb.

Seine Geschichte findet man.
Aber die seines „Opfers“, Virginia Rappe, hört man nicht mehr. Sie ging ja auch nicht weiter, denn sie war tot. Dabei, so der Artikel, handelte es sich um eine ausgesprochen interessante Frau mit großem schauspielerischem Talent.
Ich möchte nicht in die Debatte eingreifen, ob Arbuckle schuldig war oder nicht. Was geschehen ist, kann man heute nicht mehr nachvollziehen, auch wenn Dutzende von Büchern geschrieben wurden. Es gab noch keine DNA-Untersuchungen, auch die Indizien wurden damals noch nicht mit der Präzision von heute gesichert.
Was mich stutzig machte: Die Geschichte wiederholt sich. Mit einigen Ausnahmen.
Auch heute finden missbrauchte Frauen kaum Aufmerksamkeit. Wenn ich mir ansehe, welche Missbrauchsvorwürfe in den Vereinigten Staaten vorgebracht werden, gegen Politiker beider Parteien, einschließlich des Präsidenten, kann ich mich nur wundern. Der Unterschied aber zu damals: Niemand cancelt diese Politiker. Sie sich selber schon gar nicht.
Und das ist die erschreckende Erkenntnis: Es ist wieder vollkommen normal, sexuellen Missbrauch einfach zu bestreiten und damit durchzukommen. Anders als Arbuckle muss Trump nicht zurücktreten. Biden auch nicht.
Eine Entwicklung, von der wir aufpassen müssen, dass sie nicht über den Atlantik schwappt. In manchen Dingen sind wir in Deutschland weiter, wenn es um Feminismus geht. In anderen noch nicht. Die Quote kann helfen, aber sie ist natürlich ein ungerechtes Mittel zum Ziel, mir fällt allerdings kein besseres ein, aber das nur am Rande.

Virginia Rappe, Wikipedia

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, surfte ich noch ein wenig auf Wikipedia. Man weiß, wie es ist, ein Link dort folgt dem nächsten. Ich versetzte mich also in die Zeit des Stummfilms und der ersten Talkies. Namen wie Mary Pickford fielen, Clara Bow und Gloria Swanson. Von Pickford hatte ich schon gehört, die anderen kannte ich nicht.
Trotzdem waren sie alle Superstars. Die Angelina Jolies ihrer Zeit. Oder ist das auch schon wieder nicht mehr aktuell? Wer ist es denn heute? Charlize Theron? Margot Robbie? Kaley Cuoco? Keine Ahnung.
Im Moment beherrschen sie das Geschäft, sind berühmt und reich. Aber nichts hält ewig. Es scheint, dass das Vergessen ziemlich ausgeprägt ist. Künstler, Erfinder, Entdecker, Wissenschaftler, die meisten der Menschen, die uns dorthin gebracht haben, wo wir heute stehen, kennen wir nicht mehr. Oft einzigartige Genies. Und trotzdem sterblich.

Das ist auf eine gewisse Weise sogar beruhigend, denn auf diese Weise hat jede Generation ihre Chance, etwas Neues hinzuzufügen.
Manchmal aber lohnt sich der Blick zurück. Denn man muss ja nicht jede Sauerei erneut begehen, nur weil man vergessen hat, dass sie einst auch schon einmal geschehen ist.
Und deshalb sollten wir wieder an Virginia Rappe denken. Sozusagen als Erinnerung an das, was ihr widerfahren ist.
Und dabei auch Roscoe Arbuckle nicht vergessen, denn immerhin ist er bis heute nicht verurteilt. Und wenn er unschuldig war, hat er nicht verdient, was ihm passiert ist.
Eine Ungerechtigkeit rechtfertigt nicht die nächste.
Besonders in Zeiten der sozialen Medien, die nichts vergessen.
Und schon gar nichts verzeihen.

Hier ein Link zum Coronavirus-Update mit Prof. Drosten.