Voll krank

Es ist nicht zu fassen.
Seit halb sieben sitze ich vor dem PC. Lese Nachrichten. Und mir geht es physisch nicht gut.
Heute Morgen beim Aufwachen dachte ich wirklich: Heute ist ein Tag zum Feiern. Auch wenn ein gewisser Zweckpessimismus mich immer davon abhält, vollkommen auszurasten, war ich wirklich optimistisch. Die Polls (Umfragen) waren in sofern klar, als dass es in den USA viele Swing States hätte geben müssen, die zumindest hätten umkämpft sein müssen. In denen Joe Biden wirklich hätte gewinnen können. Florida gehörte dazu. Sogar Texas. Am Ende waren das keine knappen Ergebnisse für Trump. Es gibt in den USA wirklich über 60 Millionen Menschen, die diesen autokratisch angehauchten Reality TV-Star wirklich für einen geeigneten Politiker halten.

Auch wenn die Wahl noch nicht vorüber ist, so steht doch eines fest: Die Debatte wird weitergehen. Und damit die Spaltung des Landes, die noch tiefer werden wird. Denn, fast unbemerkt von der viel zu spannenden Präsidentschaftswahl, haben es die Demokraten nicht geschafft, den Senat zu übernehmen. Das heißt im Klartext: Biden, so er gewinnen sollte, wäre ein sogenannter lame duck Präsident, denn ohne Senatsmehrheit geht in den USA kaum etwas.
Anders herum gilt das aber ebenfalls, denn der Kongress, die zweite Kammer in den USA, wird weiterhin von den Demokraten gehalten, wenn auch knapper als erwartet.
So viel zu den Fakten, die bislang feststehen.

Nun zu den Aussichten, die ziemlich düster sind.
Ich frage mich, was aus diesem Land jetzt werden soll.
Dadurch, dass es de facto nur zwei Parteien gibt, scheint alles nur noch schwarz oder weiß. Entweder oder. Das wäre alles nicht so dramatisch, wenn die Positionen nicht so extrem wären. Wenn sich beide Parteien auf einen gepflegten Umgang und auf Programme der Mitte verständigen würden. Das ist aber nicht der Fall. Beide Seiten versuchen, jeweils eine scheinbar maximal radikale Agenda durchzusetzen. Dass dabei Kompromisse und auch die Kommunikation zwischen beiden Gruppen verloren gehen, steht außer Frage.
Dadurch aber ziehen sie auch das gesamte Land mit sich. Die Trennlinie geht nicht nur durch die ehemaligen Nord- und Südstaaten. Sondern bereits durch Firmen, Freundeskreise, Familien. Common ground, also die Schnittmengen, in denen sich beide Teile zu treffen pflegten, existiert offensichtlich nicht mehr. Keiner redet mehr. Im Gegenteil, man freut sich darüber, dass der andere eben nicht gewonnen hat, dass man ihm eins hat auswischen konnte. Ich habe die Beleidigungen der letzten Tage nicht mitgezählt, aber „cray, baby“,“crying libtard“, „demonrat (statt Demokrat)“ waren noch die harmlosesten Schimpfworte in den sozialen Medien. Es scheint nicht mehr nur darum zu gehen, sich politisch durchzusetzen, sondern darum, den Gegner zu vernichten.
Das kann eine Demokratie nicht überleben, deren Hauptmerkmal es gerade ist, auch die Minderheiten (die ja eigentlich die Mehrheit darstellen) einzubeziehen.
Das ist nicht absehbar.
Nun, vielleicht wird alles doch noch irgendwie gut. Die Sonne scheint, ich habe gerade Yoga gemacht und gefrühstückt.
Sicher aber bin ich nicht.

Eine letzte Frage noch, die mir schon seit Jahren im Kopf herumschwirrt:

Was sagt es über ein Land, in dem so viele Menschen einen Menschen mit autokratischen Tendenzen und Rassisten unterstützen?
Ich bin ja der Auffassung, dass Trump hier bei einer breiten Bevölkerungsmasse nicht umsonst Unterstützung erhält, weil er diese negativen Instinkte anspricht.
Heute jedenfalls bin ich froh, Europäer zu sein, wo es zwar auch einen Rechtsruck gibt, dieser aber bei Weitem nicht so stark ausfällt.
Ich hoffe, dass das so bleibt.
Wetten würde ich nicht darauf.
Denn meine Lebenserfahrung sagt mir: Menschen sind überall gleich. Hier wie dort.
Und alles scheint möglich.
Auch das scheinbar Unmögliche. Nur 75 Jahre nach der letzten Schreckensherrschaft in Deutschland.
Und jetzt habe ich wieder schlechte Laune.