Voll entspannt? Noch nicht

Der gestrige Tag war vor allem eines: stressig.
Im Grunde verbrachte ich ihn damit, mir ständig die neuesten Zahlen aus verschiedensten Bundesstaaten der Vereinigten Staaten anzusehen, immer wieder und wieder.
Meine Gemütsstimmung änderte sich dabei im Minutentakt, mal zu Tode betrübt, mal himmelhochjauchend.
Der Witz dabei: Es ist die erste US-Wahl, die ich intensiv verfolge. Auch weil sie so wichtig ist, nicht nur für die USA, sondern für die Welt.
Dass ich dabei, trotz meines Wissens darum, mit dem eigenartigen Wahlmännersystem nicht zurechtkam, ist nur ein kleiner Teil der Geschichte gestern. Denn hinzu kam noch, dass es in vielen Bundesstaaten die Regel gibt, erst diejenigen Stimmen zu zählen, die Leute persönlich in Wahllokalen abgegeben haben. Und danach erst die Stimmen, die via Briefwahl eingetroffen sind. Das hatte Kalkül, denn diese Regeln sind fast ohne Ausnahme von Republikanern gemacht worden. Um eine lange und anstrengende Geschichte kurz zu machen: Trump führte in vielen Staaten scheinbar uneinholbar, weil seine Wähler natürlich selbst wählen gegangen sind. Und ich wurde panisch.
Die demokratischen Wähler hingegen haben aufgrund der Pandemie die Briefwahl genutzt. Und so kam es, dass Trumps Vorsprünge in Staaten wie Michigan und Wisconsin schmolzen und schmolzen, bis sie sich schließlich ins Gegenteil verwandelten. Ich habe mir sagen lassen, dass es 2016 genau anders herum gewesen ist, dort lag Hillary lange vorne, bis Trump sie überholte. Biden eroberte beide Staaten. Swing States, die Trump in 2016 klar gewonnen hatte.
Noch ist die Wahl nicht entschieden, aber es kristallisiert sich langsam heraus, dass dieses Phänomen auch in Georgia und – vor allem – in Pennsylvania geschehen kann, wo Trump noch führt.
Ich begreife es also langsam.
Und das ist ungemein beruhigend.

Wie gesagt, die Wahl ist nicht vorbei. Aber dennoch steigen die Chancen, dass Trump als Präsident Geschichte ist. Was er natürlich nicht verkraftet. Juristische Klagen gehen bereits ein. Gegen was ist noch nicht klar. Es wird also, so denn Biden wirklich gewinnen sollte, eine ruppige Zeit bis zur Vereidigung im Januar werden.
Doch das macht mir kaum Sorgen, denn wie es scheint, sind die meisten Trump-Wähler doch noch so etwas wie Demokraten, auf eine perfide Weise, und erkennen das Ergebnis an. Sicherlich, es gibt auch die anderen, die Lautsprecher, die auch gerne mal mit halbautomatischen Waffen herumwedeln. Aber von den befürchteten Ausschreitungen sind wir meilenweit entfernt.
Hoffen wir, dass es so bleibt.

So änderte sich also mein gestriger Gemütszustand ständig.
Witziger Weise musste ich manchmal an 1987 denken, das Jahr habe ich in Kalifornien als Austauschschüler verbracht. Ich musste damals die einzelnen Staaten der Vereinigten Staaten auswendig lernen. Und natürlich auf einer Karte zuordnen. Ich verstehe das, man sollte sein eigenes Land kennen. Und als Austauschschüler auch, denn ich verbrachte ja viel Zeit hier, die sehr prägend war.
Gestern jedenfalls wurde ich wieder mit der Karte der USA konfrontiert. Blau, rot, sehr blasses blau, sehr blasses rot, manchmal auch grau. Was aber natürlich an der Staatenverteilung nichts änderte.
Jedenfalls weiß ich jetzt wieder, wo Michigan ist, wo Pennsylvania, Arizona und Nevada. Und auch Wisconsin.
Ich habe einige Gegenden gegoogelt. Wunderschön.
Aber die Menschen dort? Ich weiß nicht.
Das ist natürlich vereinfachend. Denn die Menschen sind fast durchgängig nett und zuvorkommend. Sicherlich damals wie heute.
Ob ich das Land allerdings jemals wieder besuchen möchte, bezweifle ich. So zerrissen wie es ist? Und so politisiert, wie ich bin?
Als Schüler konnte ich mir nicht vorstellen, mit Menschen befreundet zu sein, die nicht ansatzweise eine ähnliche politische Einstellung wie ich hatten. Ein bisschen engstirnig.
Später schien mir das nicht mehr so wichtig. Auch weil ich vollkommen unpolitisch war.
Bliss.
Heute?
Bin ich wieder politisch und kann mir vorstellen, mit Leuten zu verkehren, die sich auf demokratischem Boden bewegen, die sich in der Mitte befinden, egal ob sie sich dabei rechts oder links lehnen, so wie ich oft, weil ich mich kaum zuordnen kann. Mal so, mal so. Nur mit den Extremisten komme ich nicht zurecht. Egal von welcher Seite.
Und um nochmals einen Schlenker in die USA zu machen: Die Wähler von Trump befinden sich meines Erachtens eben nicht mehr auf diesem Gebiet.
Und vielleicht ist das der wahre Grund, warum ich das Land nicht bereisen will. Wenn fast 50% der Bevölkerung vollkommen willentlich und freiwillig einen solchen Menschen mit autokratischen Zügen wählen, dann habe ich dort nichts verloren.
Diese Einstellung macht es nicht besonders leicht für einen Reisenden wie mich, denn in vielen Ländern ist die Situation ähnlich oder schllimmer.
Aber leicht war es noch nie.
Solange ich denken kann.
Und das ist auch ganz gut so.