Voll in Balance

Und immer noch nicht geschafft.
Ich hatte gehofft, dass gestern der Tag sein könnte, an dem die Welt hätte aufatmen können. Aber noch ist es nicht so weit. Die Chancen für Biden, neuer Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, sind zwar weiter gestiegen, aber nur im Millimeter-Bereich. Die quälend lange Auszählung in Staaten wie Pennsylvania, Georgia, Nevada, North Carolina und Arizona erstreckt sich bereits seit mehr als 48 Stunden. Schuld daran sind übrigens die republikanischen Landespolitiker, die es nicht erlaubt haben, die Briefe „zu prozessieren“, d.h. auf die Auszählung vorzubereiten, ein in den USA komplizierter Prozess.
Da sich aber alle Wahlhelfer der Tragweite dieser Wahl bewusst sind, verrichten sie mit stoischer Akribie ihre Arbeit. Um am Ende wirklich jede Stimme zu zählen. So wie es in einer Demokratie auch sein sollte.
Trump hingegen benimmt sich … wie Trump sich eben benimmt, wenn ihm die größte Niederlage seines Lebens bevorsteht. Ich will gar nicht im Detail darauf eingehen, wer will, kann sich die Eskapaden und Lügen anhören. Ich selbst schaue mir das schon seit zwei Jahren nicht mehr an, lese ab und zu darüber, denn meine Meinung habe ich mir bereits gebildet. So etwas härtet ab.

Ich wünschte, dass ich an diesem Meltdown des bald ehemaligen Präsidenten irgendwie Freude verspüren könnte. Kalte Rache sozusagen. Tue ich aber nicht, ich empfinde sein Gebrüll als erniedrigend und auch gefährlich. Weil viele seiner Anhänger so aufgepeitscht scheinen, dass Unsagbares inzwischen möglich erscheint.
Die Rhetorik jedenfalls wird aus dem Trump-Lager schriller. Seine Söhne sprechen schon vom „totalen Krieg“. Offensichtlich wissen sie nicht, was das ist. Weder was es früher bedeutete, frei nach dem preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz, oder was Hitler letztlich daraus gemacht hat. Was nicht heißt, dass so etwas nicht am Ende geschehen kann.
Unglaublich, dass ich so etwas formulieren muss. Es bereitet mir körperliche Schmerzen. Die übrigens schon seit zwei Tagen anhalten. Und je näher Biden seinem Ziel rückt, desto stärker werden sie.

Update: Georgia has turned blue. Will heißen, dass die Demokraten den ehemaligen Republikaner-Staat übernommen haben. Es ist noch zu früh für Jubel-Arien, doch der Trend scheint unumkehrbar.
In Pennsylvania rechne ich minütlich damit, dass der Staat auf „blau“ umschwenkt.
Und die Töne aus dem weißen Haus werden immer verzweifelter. Man will klagen, befürchtet Wahlbetrug, verlangt, dass in einem Staat (Pennsylvania) mit dem Zählen aufgehört wird, in einem anderen (Arizona) kann man gar nicht lange genug zählen. So wie es eben gerade passt. Dieses Verhalten kann niemanden mehr überraschen, der die Ereignisse der letzten Jahre noch halbwegs im Kopf hat, was eine echte Leistung wäre, weil die Barrage aus Washington beinahe im Minutentakt kam. Ein Skandal nach dem anderen, bis niemand mehr bei einem echten Skandal schockiert war.
Auf diese Weise hat Trump sich weitergehangelt, vier Jahre lang, erschöpfend … und für manche unterhaltend genug, um ihn nochmals zu wählen.

Weiteres Update: Und noch immer ist nichts Wesentliches geschehen. Ich habe unsere Katze Daisy zum Tierarzt gebracht, ihr steht eine unangenehme Zahn-Operation bevor. So ist das mit teuren Zuchttieren. Schlechte Zähne. Mindestens vier müssen raus.
Das war eigentlich die Hälfte meines heutigen Tagespensums, die andere Hälfte: die schlafende Daisy nachher abholen.
Ansonsten ist nicht sehr viel mehr passiert. Es gibt keine neuen Zahlen aus Pennsylvania. Und auch keine aus anderen Staaten. Somit ist immer noch nicht klar, wer nun Präsident wird. Oder zumindest noch nicht vollkommen eindeutig, denn es kann ja immer noch anders kommen. Kaum auszudenken.
Nein, ich rechne nicht damit, dass Trump es noch schaffen kann. Aber es nagt dort noch eine unangenehme Unsicherheit im Bauch.
Stay alert.
Als wenn ich etwas tun könnte.

Final update: Pennsylvania ist blau.
Das erste Mal seit Tagen hat sich der Staat blau gefärbt. Biden führt. Es sind zwar nur 5000 Stimmen Vorsprung, aber es sieht nicht danach aus, dass Trump die Führung jemals wieder in dieses Rennen eingreifen kann.
Ich bin noch nicht ganz sicher, also keine 100%. Aber 99%.
Für mich war es das heute.
Morgen dann das Ende der Geschichte, eine Odyssee, die meine Haare seit 2016 komplett grau gemacht hat, eine Zeit, in der ich gerade mal einen Roman geschrieben habe, in Vollzeit, anstelle von vier, die ich normalerweise zustande gebracht hätte. Und eine Zeit, die ich als Ganzes, samt Brexit, als einen siechenden Alptraum bezeichnen würde.
Nach Champagner ist mir also nicht.
Aber ein bisschen Ruhe ist auch nicht zu verachten.
Alles Weitere dann morgen.