Voll schlaflos

Die Ereignisse der letzten beiden Tage waren nicht gerade angenehm. Gestern Nacht wachte ich auf. Mein erster Griff ging zum Smartphone, das ich mit aus dem Schlafzimmer trug, um mich zu informieren, ob das Capitol in Washington noch stand. An Schlaf war danach nicht mehr zu denken.
Nun, es steht noch. Aber alleine die Nachrichten sind schockieren. Leider nicht überraschend, denn seit Wochen rechne ich damit, dass so etwas oder sogar Schlimmeres geschieht. Die Rhetorik, die aus dem Weißen Haus kam, wurde in den letzten Tagen immer schärfer, so dass es kein Wunder war, dass der nun bald ehemalige Präsident die Massen, die wegen ihm nach Washington gekommen waren, am Tag der Zertifizierung des Wahlergebnisses in den beiden Regierungskammern, so lange aufgehetzt hat, bis diese marodierend ins Capitol eingebrochen sind, dem heiligsten Symbol der amerikanischen Demokratie. Es ist der Reichstagsmoment für die Amerikaner. Der Augenblick, in dem sie sich noch entscheiden können, ob sie weiterhin eine Demokratie und ein geeintes Land sein wollen. Oder ob sie sich trennen und andere politische Systeme verfolgen möchten.

Ich möchte nicht zu sehr vorgreifen, aber ich glaube, dass die politische Situation gerade unterschätzt wird. Und deswegen nicht genutzt werden wird.
Schon kommen aus dem „konservativen“ Lager die ersten Relativierungen. Schon wird der Umstand geleugnet, dass es sich um einen Aufstand gehandelt und dass Trump die Menge überhaupt angestachelt hat. Schon wird wieder gelogen, wird von einigen Brandrednern behauptet, dass es sich nicht um Trump-Anhänger, sondern um „Antifa“ gehandelt hat, die sich unter friedliche Demonstranten gemischt haben. Das kennen wir alles. So wie die Juden damals wegen des Reichstagsbrandes verfolgt wurden, gelegt von den Nazis selbst, wiederholt sich gerade die Geschichte.
Damit nicht genug, es gibt noch mehr Parallelen. Vor einigen Monaten hat die Black-Lives-Matter-Bewegung in Washington demonstriert. Das ganze Areal war gesichert mit Tausenden Mitgliedern der Nationalgarde. Guess what, die war vorgestern gar nicht anwesend. Trotz der Ankündigung von Tausenden Trump-Anhängern, teilweise bewaffnet, sich gegen das Wahlergebnis aufzulehnen.

Wir wissen noch nicht alles zu diesen Ereignissen, aber der Gedanke, dass es sich doch um einen geplanten Coup gehandelt haben könnte, liegt nicht fern.
Wenn man jetzt noch bedenkt, dass fast 50% der republikanischen Wähler (Yougov-Umfrage) den Sturm auf das Capitol befürworten, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass in der Zukunft noch Schlimmeres droht. Wir werden gerade Zeuge der Zerstörung der amerikanischen Demokratie. Es geschieht nicht mit einem Schlag, es ist keine Explosion, auch wenn die Ereignisse vorgestern so ausgesehen haben. Nein, es ist das Zertrümmern des Systems im Kleinen. Death of a thousand cuts. Scheibchenweise, mit jeder Lüge, mit jedem Gerrymandering, mit jeder Entmachtung von Institution und mit jedem Brechen lang etablierter Normen schrumpft die Demokratie.
Wir haben es schon einmal erlebt. Eigentlich die ganze Weimarer Republik hindurch. Wer denkt, dass die Zerstörung der Demokratie erst mit der Machtergreifung der Nazis 1933 und dem folgenden Ermächtigungsgesetz begonnen hat, hat in Geschichte nicht aufgepasst. 14 Jahre lang haben extreme Kräfte die eigentlich gute demokratische Verfassung ausgehöhlt, bis von ihr nichts mehr übrig war. Den Rest haben dann die rechten Schergen der Nazis erledigt. Das Ergebnis ist bekannt. Es endet letztlich immer gleich, wenn Extremisten die Macht übernehmen.

Warum schreibe ich das alles?
Weil ich noch immer die Hoffnung habe, dass den USA und damit wahrscheinlich auch uns dieses Schicksal erspart bleibt. Machen wir uns nichts vor, wenn die amerikanische Demokratie fällt, werden auch unsere Demokratien in Europa fallen. Nicht sofort, aber bald.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir in der EU bislang in der besten Zeit überhaupt gelebt haben. Keine Kriege, ein Leben im Überfluss voller Rechte und Freiheiten, beinahe sorglos, wenn man es mit anderen Epochen vergleicht. Warum Menschen bereit dazu sind, das alles zu verspielen, ist mir ein Rätsel.
Vielleicht aber ist der Mensch so. Nie zufrieden mit dem, was er erreicht hat. Er will nicht aufbauen auf etwas, sondern erst zerstören, um dann irgendetwas anderes zu schaffen.
Es ist ermüdend. Aber die Tendenzen sind beunruhigend.