Voll Präsi

So:
Ich kann jetzt auch den Gewinner ausrufen. Biden wird Präsident der Vereinigten Staaten. Nachdem ich meinen Blogeintrag vorgestern beendet und veröffentlich hatte, wurde er von allen wesentlichen Nachrichtensendern (einschließlich Fox-News) zum Sieger erklärt.
Typisch.
Hier war ich dann mal zu schnell. Beim Schreiben. Passiert mir nicht oft.
Wir haben abends darauf angestoßen, wohl wissentlich, dass Trump noch nicht am Ende ist. Der Orange wird sich winden bis zum Schluss. Er wird klagen, weiter Lügen von Wahlbetrug verbreiten, haltlose Anschuldigungen ausstoßen. Er wird damit nicht durchkommen.
Oder?
Schon die Tatsache, dass ich diesbezüglich nicht 100%ig sicher sein kann, verursacht mir schlechte Laune. Viel zu viele Anhänger hat dieser „Mensch“ um sich gescharrt, um nun zu denken, dass er ein für allemal besiegt ist. Zu viele Trends in anderen Ländern hat er gestartet, die viel zu große Gefolgschaften haben. Die den systemischen Rassismus, Xenophobie, Homophobie, Frauenhass und noch viele andere unangenehme Eigenschaften in die Mitte von Gesellschaften getragen haben.
Ich möchte einfach glauben, dass das plötzlich ein Ende gefunden hat.
Aber es ist nicht so.
Einfach mal ein Fakt (alles andere als „fun“): Trump ist derjenige Präsidentschaftskandidat mit den zweitmeisten Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl in der Geschichte der USA.
Jetzt aber der echte Fun-Fact: Joe Biden ist der mit dem meisten.
Beide Seiten waren also mobilisiert. Sowohl die Menschen, die sich dem Hass und der Spaltung entgegensetzen wollten. Aber auch die, die beides manifestieren möchten.
Angesichts der Tatsache, dass es am Ende nur 52% zu 48% stand, ist das wahrlich kein Grund zum Jubeln.
Auch scheint festzustehen, dass Trump nur diese Ressentiments seiner Anhänger bedient hat. Man kann ihn als dummen ungebildeten TV-Star mit Hang zum Größenwahn bezeichnen. Und sich nicht stärker irren.
Trump hatte und hat die Fähigkeit, sein Publikum zu faszinieren, ihm das zu geben, was es wirklich will. Und darin liegt das Problem. Trump ist nicht die Ursache, sondern nur Spiegelbild eines Teils der Gesellschaft, die wir, die liberale Mitte, nicht wahrhaben wollten. Trump als Ausrutscher in der Geschichte, als Schrei nach Aufmerksamkeit von Benachteiligten.
Nein, diese Narrative müssen wir endlich korrigieren. Es gibt offensichtlich Dinge, die einem großen Teil der Amerikaner wichtiger sind als ihre freiheitliche Demokratie. Sie nehmen die Lügen in Kauf, die Hetze auf den politischen Gegner, die Erpressungsversuche von ehemaligen Verbündeten auf außenpolitischer Ebene, nur um Kinder in Käfigen zu sehen, Frauen mit Abtreibungsverboten zu demütigen, ihre Ideen von „White Supremacist“, also weißer Rassenideologie, umgesetzt zu sehen. Dass dabei nun auch die Wahlen, die schon lange davon entfernt sind, fair abzulaufen, von Trump ebenfalls difamiert werden, indem ihre Rechtmäßigkeit angezweifelt wird, passt ins Bild einer degenerierten Gesellschaft, die sich in ihren Extremen immer weiter voneinander entfernt.
Es wird mehr als einen Joe Biden bedürfen, diese Gesellschaft ins 21. Jahrhundert zu führen. Wo sie eigentlich vor 20 Jahren schon hätte ankommen müssen.

Ich sage das nicht mir Häme. Sondern mit Sorge.
Denn diese Tendenzen gibt es in Europa auch schon. Es gab sie lange vor Trump. Ihre Aushängeschilder am Anfang? Berlusconi in Italien, Le Pen in Frankreich. In Polen, Ungarn und Tschechien regieren sie gerade ebenfalls. Nur sind diese Länder noch nicht wirklich auf der Weltbühne präsent. Russland hingegen, mit ihrem eher an einen Mafia-Paten erinnernden Präsidenten, nun auf Lebenszeit, hat noch nie etwas anderes gekannt als den nationalen Populisten, der die Wahrheit zurechtbiegt, wo er kann. Und er kann viel. Biegen. Auch Menschen.

Meine Hoffnung aber ist, dass mit der doch ziemlich krachenden Niederlage Trumps, der nicht unter dem Radar flog, bald eine Wendung einsetzt. Ich kann dabei nur auf den Verstand seiner Anhänger in den USA und auch hier hoffen, die langsam einsehen müssen, wen und was sie dort vertreten haben.
Denn: Was ist eigentlich so schlimm daran, dass ein Mensch eine dunkle Hautfarbe hat? Was so schlimm, wenn er gleichgeschlechtliche Liebe vorzieht? Was, wenn er, statt in einer Kirche zu beten, einen Teppich ausrollt und sich nach Mekka wendet?
Was wird uns genommen, wenn wir einfach anerkennen, dass es andere Lebensweisen als unsere gibt?
Was verlieren wir?
Oder anders gefragt: Warum gibt es so viele Menschen, die so viel Angst davor haben? Und die deshalb so hassen?
Ich habe auf diese Fragen keine Antworten.
Und doch weiß ich, dass wir sie finden müssen.
Denn mal ehrlich: So geht es nicht weiter.