Voll coup d’état? Eher Kuh auf dem Eis
Ich muss gestehen, dass ich vorgestern eine winzige Panikattacke hatte.
Für einen Augenblick habe ich versucht, Punkte mit Linien zu verbinden. Punkte, die mir von diversen Nachrichtensendern wie CNN, MSNBC, Guardian und Zeit Online zugespielt wurden. Es waren Punkte wie die Tatsache, dass viele hochrangige Republikaner noch immer nicht den Wahlsieg von Joe Biden und Kamala Harris anerkannt haben. Einschließlich Mitch McConnell, der republikanische Mehrheitsführer (wahrscheinlich, aber noch nicht 100%ig) im Senat. Und die Tatsache, dass Trump wichtige Personen im Pentagon entlassen und mit seinen eigenen Leuten besetzt hat. Und die Tatsache, dass Außenminister Pompeo den Gedanken verbreitete, dass der Übergang zu einer zweiten Amtszeit Trumps vollkommen geräuschlos verlaufen würde.
Der Gedanke daran, dass ein Coup ablaufen könnte, lag eigentlich nicht fern. In Ländern der Dritten Welt würden solcherlei Dinge genau darauf hinweisen.
Nach einer unruhigen Nacht machte ich den PC an, ein wenig in Sorge, ob eventueller schlechter Nachrichten aus Amerika. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, marodierende Proud Boys in den Straßen von New York oder Soldaten im Kongress.
Nichts von dem ist natürlich geschehen.
Dafür las ich Nachrichten von der Arbeit, die Biden aufgenommen. Er und sein Team arbeiteten an der Übernahme, erste Personalien standen fest, auch die ersten Maßnahmen, die Biden umsetzen möchte. Mit Ruhe und Fleiß sind die Demokraten dazu übergegangen, sich nicht vom Getöse aus dem Weißen Haus stören zu lassen. Sie ließen alles unbeachtet: die Tweets, die Stille von republikanischen Machtmenschen, sie antworteten nicht auf das giftige Gekeife einiger Pundits von Fox News. Einfach nur Sacharbeit und Vorbereitung auf die enorme Aufgabe, die der neuen demokratischen Regierung bevorsteht, angesichts der tödlichen Pandemie und der nicht einfachen politischen Lage in den USA.
Sicherlich, es gibt immer mal wieder Nadelstiche. Gelder werden nicht freigegeben, Team Biden darf nicht an den wichtigen Sicherheitsmeetings im Pentagon teilnehmen, was ihnen nicht nur zustehen würde, sondern, die Sicherheit der USA betreffend, dringend notwendig wäre. Auch findet bislang keine Übergabe der scheidenden Regierung statt. Dass Trump seinen Nachfolger noch nicht ins Weiße Haus eingeladen hat, so wie es eigentlich Sitte und Anstand fordern, ist dabei die kleinste Sorge.
Beruhigend ist aber, dass Biden ein derartig erfahrener Politiker ist, den diese Anfeindungen nicht mal zu kratzen scheinen. „He will come around“, sagt er immer lächelnd, wenn es darum geht, dass Trump seine Niederlage nicht eingestehen kann. Nun, Biden nennt es natürlich auch gerne mal „beschämend“, aber im Grunde tangiert ihn das kaum.
So müssen Politiker sein. Abgeklärt, rational, entspannend. Sie müssen sich langweiligen Prozessen unterziehen, in einer Welt, die immer komplexer wird, auch weil immer mehr Informationen zu verarbeiten sind, die auf immer mehr Kanälen jedem zugängig sind. Vielleicht ist das auch einer der Gründe für den Populismus, selbst in demokratischen Ländern. Menschen sind überfordert, suchen nach Leuten, die ihnen die Welt vereinfachen.
Guess what, das wird nicht passieren. Die Welt wird nicht mehr einfacher, im Gegenteil. Also brauchen wir Leute wie Biden und auch wie Merkel, die wissen, wie komplex die Welt ist. Und die sich trotzdem nicht davon abhalten lassen, Politik so zu gestalten, wie das eigentlich immer schon gedacht war: Als langsamer langweiliger Prozess der Veränderung. Und wir, die wir wählen, müssen uns darauf verlassen können, in guten Händen zu sein. Denn eines ist sicher: Die USA waren nicht in guten Händen. Denn wer Politik nur als Fortsetzung einer Reality TV Show verwendet, mit täglich neuen Aufregern, endlosen Cliffhangern und stetig neuen Skandälchen, der hat sie nicht verstanden.
Und tut denen, für die er verantwortlich ist, keinen Gefallen. Fast 240.000 Corona-Tote in den USA sprechen eine deutliche Sprache.
Trotzdem: Wir werden keinen Coup erleben. Sondern nur die letzte Episode in dieser nun abgesetzten Show eines abgetakelten „Losers“. Der er übrigens nur ist, weil er eben nicht verlieren kann. So sehe ich es zumindest.
Eines habe ich jedenfalls in den letzten Tagen gelernt. Die USA sind eben kein Land der Dritten Welt. Denn die Institutionen halten felsenfest. Gerichte und Behörden arbeiten akribisch daran, einen geregelten Übergang zur neuen Regierung zu sichern.
Und das ist mehr als nur beruhigend.