Voll losgelöst
Ich glaube, ich schaffe es jetzt ganz gut.
Nach vier einhalb Jahren der Abhängigkeit von monströsen Nachrichten beginne ich langsam damit, mich vom Konsum dieser Artikel zu lösen. Begonnen habe ich damit in 2016, nach dem unsäglichen Brexit-Votum, das mich persönlich als Anglophiler sehr getroffen hat. Ein paar Monate später wurde dann der orange Präsident, dessen Namen ich nicht aussprechen will, gewählt, das Unglück war perfekt.
Das Eigenartige daran: Ich ließ mich einsperren in das Gefängnis der negativen Nachrichten. Kaum ein Tag verging, an dem ich nicht viele Stunden damit verbrachte, die Aufführungen zu verfolgen, die immer horrendere Akteure auf der politischen Bühne veranstalteten. Dachte ich damals oft noch, beinahe jeden Tag gewisse Höhepunkte der Idiotie erreicht zu haben, wurde dieses Gefühl fast täglich wieder übertroffen. Und zwar auf beiden Seiten des Atlantik. In den USA und in Großbritannien breitete sich etwas aus, das man als Großmannssucht bezeichnen könnte. Und drum herum schwollen die Lügen und Ungeheuerlichkeiten an, die damit einhergingen. Details will ich hier gar nicht mehr beschreiben, denn wenn ich mir diese Zeit ansehe, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Der Witz ist auch, dass ich mich an diese Details gar nicht mehr erinnern kann. Vielleicht habe ich sie verdrängt.
Ich merkte irgendwann, dass es keinen Sinn machte, sich damit auseinanderzusetzen. Also hörte ich wenigstens damit auf, die Nachrichten aus den USA zu verfolgen. Das war in 2018. Die Briten aber verfolgten mich weiter.
Dieses Jahr endlich, nachdem nun der Brexit endlich durchgeführt ist, habe ich entschieden, dass es genug ist. Ich möchte mich von dem Blödsinn lösen. Nicht dass alles vorbei wäre, ich bin mir sicher, dass es jetzt eigentlich erst richtig losgeht, denn die Schwierigkeiten eines Landes, das sich aus einem erfolgreichen Handelsblock von der Größe der EU herauslöst, bieten sicher einiges an Politainment, um sich die nächsten 10 Jahre damit zu vergnügen.
Allerdings ist das auch eine gewaltige Zeitverschwendung. Denn das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Es bringt einfach keinen Mehrwert, sich mit diesen Ereignissen zu beschäftigen. Es ist aufgrund der Halbwertzeit von Meldungen unmöglich, Schritt zu halten, etwas zu lernen oder Entwicklungen verfolgen zu können. Die atemlose Art, mit der heute gelogen wird, ist sowieso dabei, jede Schallmauer zu durchbrechen.
Daher habe ich mich dazu entschieden, das alles liegenzulassen. Morgens lese ich ein paar Meldungen in der Zeit Online, bin somit informiert, zumindest oberflächlich. Ich habe den Guardian in meiner Leseliste weit nach hinten geschoben, CNN verschwindet langsam in meinen Youtube-Favoriten nach unten.
Oblivion.
Herrlich.
Seither geht es mir besser. Ich sitze nicht mehr panisch vor dem PC und warte darauf, dass irgendwo eine Sauerei geschieht. Aber es ist nicht nur meine Seele, die langsam entspannt, auch mit meiner Arbeit komme ich besser voran. In nur zweieinhalb Monaten werde ich einen Roman von ca. 400 Buchseiten zumindest in Rohform verfasst haben. Die Bearbeitung wird länger dauern, trotzdem ist es ein Erfolg. Für den letzten Roman dieser Länge habe ich mehr als drei Jahre gebraucht. Und das lag nicht an den aufwändigen Recherchen.
Dabei sehe ich ein, dass ich auf eine gewisse Weise abhängig war vom Chaos auf der Welt. Es hat mich fasziniert.
Aber das darf nicht Lebenssinn werden, auch wenn es wie eine Soap Opera ausgesprochen unterhaltsam war, auf eine perfide Art und Weise.
Ich bin jedenfalls froh, mich erst einmal von diesem Blödsinn gelöst zu haben. Und merke plötzlich, dass der Tag wieder 24 Stunden hat, die ich sinnvoll füllen kann. Es war am Anfang gar nicht einfach. Aber jetzt bekomme ich es wieder hin.
Wenn ich das an den Corona-Wochenenden auch noch schaffe, ist alles wieder gut.