Voll Keir

Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich mich ab und zu mit Politik beschäftige.
Was mich dabei am ehesten interessiert: Menschen. Also die Führungspersönlichkeiten, die unsere Geschicke im Augenblick leiten. Kaum etwas ist faszinierender. Und beängstigender.
Haben wir in den letzten Jahren wahre Monster erleben müssen, die es geschafft haben, Wähler derartig einzuwickeln, dass diese nicht mehr in der Lage waren (und sind), die scheußlichen Charaktereigenschaften ihrer „Lieblinge“ zu erkennen, gibt es zum Glück auch andere Beispiele. Führungspersönlichkeiten, die anders sind. Ehrlicher. Und trotzdem intelligent. Und taktisch klug. Besonders Letzteres ist eine Eigenschaft, die vielen durchaus moralisch integeren Personen fehlt. Und was leider oft dazu führt, dass diese die Wahlen verlieren.

Britische Politik verfolgt mich nun seit einigen Jahren. Ich möchte jetzt nicht rekapitulieren, das führt zu weit. Aber ich habe in meinen Jahren in Großbritannien nur Tony Blair als Premier Minister erlebt. Das Jahrzehnt Tory-Chaos, das nach den Labour-Regierungen von 1997 – 2010 folgte, habe ich schon nur aus der sicheren Entfernung meines Heimatlandes verfolgen dürfen. Der Höhepunkt der Perfidität und der Arroganz war sicher das Brexit-Referendum 2016. Die Wellen, die diese vollkommen unnötige, nicht bindende und ungenaue Befragung geschlagen hat, sind noch immer turmhoch und haben das Potential, weiterhin massiven Schaden anzurichten.
Vor allem, weil die sturen Brexitears, also die, die Großbritannien als Insel wohl am liebsten vom Kontinent fortstoßen wollen, jetzt seit einem Jahr an der Macht sind. Der unsägliche Boris Johnson hat es irgendwie geschafft, nicht nur Premier Minister zu werden, sondern auch noch die Unterhauswahlen 2019 erdrutschartig zu gewinnen. Die Gründe dafür sind vielfältig, Brexitmüdigkeit der Bevölkerung, ein mehr als schlechter Oppositionsführer, die Fähigkeit, ständig zu lügen und damit durchzukommen, uvm.

Und jetzt zum eigentlichen Thema des Blogbeitrags: Sir Keir Starmer, der jetzige Oppositionsführer der Labour Party, in Ansätzen vergleichbar mit unseren Sozialdemokraten, wobei der Begriff in einem Quasi-Zwei-Parteinen-System sicher noch weitläufiger zu verstehen ist.
Nur einige Auszüge seines Werdegangs:
Im April 2020 wurde Starmer zum Oppositionsführer gewählt. Vorher hatte er 2015 das erste Mal ein Mandat zum Abgeordneten im Unterhaus gewonnen.
Bevor er Politiker wurde, leitete er als Direktor den Crown Prosecution Service, die britische Staatsanwaltschaft und war Menschenrechtsberater in Nordirland. Aus einfachen Verhältnissen kommend war er der erste in seiner Familie, der studiert hat. 2014 wurde er von der Queen für seine Verdienste für Recht und Strafverfolgung in den Adelsstand gehoben und darf sich seither „Sir“ nennen. Nicht dass er diesen Titel oft benutzt, aber dazu später.

Heute nun hielt er seine erste Rede vor der jährlich stattfindenden Labour Party Conference, virtuell natürlich. Es ist ja Corona-Zeit.
Es war bemerkenswert. Und das aus mehreren Gründen.
Ich finde es immer interessant, was Menschen sagen. Und was sie nicht sagen.
Wie sie sich aufstellen. Sich präsentieren. Ich war also gespannt, ob uns ein weiterer Visionär behelligen würde, so wie seit 20 Jahren. Thatcherism, Blairism, Corbynism, um nur ein paar zu nennen. Alle gingen mit markigen Sprüchen daher, For the many, not the few, Better together, Get Brexit Done. Es gibt noch mehr. Kaum ein Spruch nichtssagender als der andere.
Starmers Spruch heute: „New Leadership“. Nicht mehr als zwei Worte, kaum der Rede wert, weil sie ganz sicher nicht visionär sind. Und doch Starmer positionieren und ihn ganz wesentlich abgrenzen. Und zwar in alle Richtungen.
Starmer war seit 2015 schon im Schattenkabinett seines Vorgängers Corbyn, also in der Oppositionsregierung. Hier hat er sich immer für den Verbleib in der EU ausgesprochen, stand damit im kompletten Widerspruch zu seinem Chef. Erstaunlicherweise hat er es überlebt, ist nie gefeuert worden. Trotzdem hat er sich mit der Rede vollkommen von seinem Vorgänger gelöst, der die verheerendste Wahlniederlage seit Jahrzehnten zu verantworten hatte (Spoiler: Brexit war das große Thema).
Abgekehrt von der radikalen Linken versucht Starmer, die Labour Party wieder ein Stück in die Mitte zu schieben. Versucht, die sogenannten „Red Wall Wähler“ im Norden Englands, die sich 2019 abgewandt hatten, wieder zurückzugewinnen. Ein Drahtseilakt, denn diese Wähler sind durchaus patriotisch. Leider oft auch xenophob und stockkonservativ, was kein Widerspruch ist, denn auch Sozialisten können bewahren wollen. Das kennen wir ja aus der ehemaligen DDR.
Es war ein sehr vorsichtiger Versuch Starmers, hier die ersten Eindrücke zu machen. Labour wieder als wählbar, auch für diese Schicht, erscheinen zu lassen. Dabei präsentierte er sich als stolzes Arbeiterkind, der er ist. Und als „Sir“, etwas, das er noch nie vorher herausgekehrt hat.
Das Motto: Corbyn ist Vergangenheit, ich will gewinnen. Und Labour mit mir. Damit Großbritannien zu dem werden kann, was es in sich hat. Und auf das wir weiterhin stolz sein können.
Auf Programme und Visionen ging er nicht ein. Und das war der zweite faszinierende Punkt. Denn in der Rede ging es noch nicht darum, sich vier Jahre vor der nächsten Wahl schon in programmatische Grabenkämpfe zu begeben. Wie ich fand, ein ausgesprochen kluger Schachzug.

Denn, auch wenn es wichtig war, einen Schlussstrich unter die Politik seines Vorgängers Corbyn zu ziehen, der eigentliche Gegner steht doch woanders: bei den Tories, den Konservativen.
Aber auch diese Partei ist nicht wichtig, wenn ich Starmer heute richtig gedeutet habe. Denn die Attacken, die er jetzt ausführte, richteten sich fast ausschließlich gegen Boris Johnson. Und hier setzte er fort, was er schon seit Monaten tut: Er stellt seinen Charakter gegen den des unglücklich agierenden Johnson.
Die Unterschiede könnten größer nicht sein. Auf der einen Seite den Labour-Führer, Arbeiterkind, aus bescheidenen Verhältnissen, auf der anderen der Konservative, aufgewachsen mit einem goldenen Löffel im Mund, in Eton ausgebildet, auf der Sonnenseite des Lebens stehend.
Auch charakterlich unterscheiden sich die beiden.
Starmer: Fleiß, Detail-Verliebtheit, Ehrlichkeit, Klarheit, Selbstaufopferung.
Johnson: Ungenauigkeit, Wankelmut, Faulheit, Verlogenheit, Narzissmus.
Es wird also beim nächsten Wahlkampf weniger auf das Programm der Parteien ankommen, sondern eher auf die Persönlichkeiten der beiden Hauptgegner. Das war natürlich immer schon wichtig, doch ist das noch einmal eine Größenordnung.
Ich frage mich, ob das nicht auch in Ansätzen die gleiche Taktik ist, die Joe Biden in den USA verfolgt. Nur ist es hier, zwischen Starmer und Johnson, eindeutiger. Auch scheinen die Menschen in Großbritannien (noch) nicht so sehr auf Johnson fixiert zu sein, wie das in den USA mit Trump der Fall ist. Denn Labour hat in den neusten Umfragen bereits aufgeschlossen, die Tories haben verloren. Auf diesen Trend setzt Starmer also.
Er scheint auch erkannt zu haben, dass es sich bei seiner Taktik nicht um einen Sprint, sondern um einen Marathon handelt. Er muss heute noch nicht alles aus sich herausholen, jeden Kampf kämpfen und sich verausgaben. Er muss weiter fleißig daran arbeiten, seine Vorteile herauszustellen. Und den Tories (und ihren medialen Kettenhunden) keine allzu großen Angriffsflächen zu bieten.
Noch etwas: Piers Morgan, ein populistischer Gernegroß, Brexitear und (leider) prominente konservative TV-Persönlichkeit, sagte zu der Rede heute: „Very good speech by @Keir_Starmer – confident, intelligent, serious, thoughtful & mercilessly savage about Boris.
Labour has an electable leader for the first time in years.“
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Daher hoffe ich, dass Starmer der Versuchung widersteht, einen Personenkult mit einem anderen zu ersetzen. Denn irgendwann, so denke ich, wird er liefern müssen. Dann werden die Scherben der „konservativen“ Politik zu seinen Füßen liegen. Dann zählen die Eigenschaften Fleiß, Detail-Verliebtheit, Ehrlichkeit und Klarheit mehr als die leeren Worte eines Boris Johnson:
Ich hoffe stark, dass es dazu kommt.
Damit dieses Land nicht noch weiter leiden muss.
Und noch tiefer sinkt als jetzt schon.