Voll Broad Church
Nein, es geht nicht um die Drama-Serie der BBC. Auch wenn ich sie mit gutem Gewissen jedem empfehlen kann, schon aufgrund der herausragenden Schauspieler Olivia Colman und David Tennant.
Nein, es geht um Politik, auch wenn Ehefrau Nina bei dem Gedanken, schon wieder einen solchen Artikel lesen zu müssen, sicherlich stöhnen wird.
Die Grünen haben am Wochenende einen Parteitag abgehalten. Virtuell, in Wohnzimmeratmosphäre, ziemlich heimelig. Oder bürgerlich? Nun, warum auch nicht. Es war auf keinen Fall Zufall.
In jedem Fall haben die Grünen ein neues Grundsatz-Programm verabschiedet. Und das lässt ein bisschen aufhorchen. Denn ein paar Dinge haben sich verändert.
Von Volksentscheiden, ein Erbe aus Zeiten von Bündnis ’90, haben sie sich verabschiedet. Sicherlich auch aufgrund der Erfahrungen der letzten Zeit aus anderen Ländern, allen voran der Brexit, das größte Desaster in Europa in diesem noch jungen Jahrtausend.
Beim Thema Klimaschutz gab es eine wachsweiche Formulierung: „Man wolle sich auf den 1,5 Grad-Pfad begeben“, die Erderwärmung also auf anderthalb Grad zu beschränken. Das ist vielen traditionellen Grünen-Wählern zu wenig. Und verrät dennoch, in welchen Maßstäben die Führung derzeit denkt.
Denn Baerbock und Habeck haben erkannt, dass sie ohne Macht nichts erreichen werden. Und haben deshalb einen Machtanspruch entwickelt, der sich sehen lassen kann. Vor allem in der neuen Strategie.
Und die ist an das gekoppelt, was ich als „Broad Church“ bezeichnen möchte.
Eine Kirche, die vielen politischen Gruppierungen Zugang gewährt.
Und das schließt auch Konservative ein.
Ein kleiner Ausflug ins Ausland.
Die „Broad Church“ als solche findet man eigentlich eher in Staaten wie den USA oder Großbritannien, in denen im Grunde nur zwei Parteien existieren. In Großbritannien stimmt es nicht hundertprozentig, aber im weitesten Sinne. Hier versammeln sich die Konservativen bei den Tories. Und die eher Linken bei Labour. Man kann sich vorstellen, was das bedeutet. Weit-Rechte und Mitte -Rechte müssen zusammenarbeiten. Und Mitte-Linke und Marxisten. Das sind natürlich Extrem-Beispiele, doch wird anschaulich, was hier vor sich geht. In Großbritannien zeigt sich übrigens auch, dass die Konservativen es besser schaffen, Mehrheiten zu gewinnen, auch wenn sie oft zerstrittener sind als Labour, weil sie derartig machtversessen sind, dass sie zu Wahlzeiten doch eher zusammenhalten. Labour hingegen zerfleischt sich meist selber, dazu öffentlich und ziemlich laut. Auch wenn sie eigentlich Mehrheiten finden müssten, schaffen sie es nicht. Ideologie steht der Linken in Großbritannien häufig im Weg.
Ähnlich funktioniert das System in den USA. Auch hier versammelt sich das konservative-libertäre Lager eher in der GOP, die „Linke“ bei den Demokraten. Wobei die Begriffe hier anderes bedeuten. Der neue US-Präsident Biden ist im Grunde politisch mit Kanzlerin Merkel vergleichbar. Trump hingegen eher mit Bernd (das Brot) Höcke.
Trotzdem gilt auch in den USA: Die beiden Parteien müssen es schaffen, ein breites Wählerspektrum abzudecken, um gewählt zu werden.
Die „Broad Church“ ist hier überlebenswichtig.
Um wieder zum Thgma zu kommen: Auch die Grünen haben es im Jahr 2020 erkannt, dass für sie das Gleiche gilt. Wenn sie wirklich mehr erreichen wollen, müssen sie sich anderen Wählerschichten öffnen. Sie müssen ideologischen Ballast abwerfen oder diesen zumindest abschwächen (hier eine Schweige-Sekunde an Esoteriker, aber mehr nicht). Denn worum geht es im Allgemeinen? Es geht in der Politik letztlich darum, Wahlen zu gewinnen, um Einfluss auf das Geschehen zu bekommen. Natürlich lässt es sich leicht dahersagen, dass man Autos abschaffen und Straßen wieder abreißen möchte. Nur wird man dann eben nur fünf bis acht Prozent der Wähler ansprechen können. Verabschiedet man sich hingegen von radikalen Ideen, die die politische Mitte nicht mittragen kann, eröffnet man sich neuen Wählergruppen. Vielleicht wird dann ein grünes Programm nicht mehr so progressiv, wie sich das manche wünschen. Aber besser ist es, ein grünes Programm zu haben, dass man politisch umsetzen kann, als eines, mit dem man nur als Randerscheinung in der Bevölkerung dasteht, ohne politische Akzeptanz und politische Durchsetzungskraft.
Oft brauchen politische Ideen länger, bis sie in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Baerbock und Habeck haben das verstanden. Und ihre Politik dieser alten Weisheit angepasst.
Viel wird darauf ankommen, ob die Basis der Grünen bei dieser für sie radikalen Veränderung mitmacht. Man erinnere sich an die Grabenkämpfe zwischen den Realos und den Fundis. Es ist der gleiche Kampf. Und das seit Jahrzehnten. Fundis stellen dabei die radikalen Umweltschützer dar, für die es keine Kompromisse gibt. Die Realos hingegen sehen, dass gesellschaftlich nicht alles umsetzbar ist. Politisch gerissen sind aber nur die Realos, aus den Gründen, die ich oben beschreibe. Denn nur sie haben die Chance, sich politisch einzubringen. Und nicht nur aktivistisch. Auch wenn sich Letzteres sicherlich gut anfühlt, nachhaltige Veränderung bringt es nicht, weil es weite Teile der Gesellschaft abschreckt.
Und besonders den Fundis möchte ich ein Beispiel für einen grandiosen Misserfolg aus jüngster Zeit ins Gedächtnis bringen, bei dem eine politische Führungskraft es nicht für nötig gehalten hat, den Gedanken der „Broad Church“ umzusetzen.
Ich spreche von Jeremy Corbyn.
Corbyn ist ein Politiker, dessen Politik in weiten Teilen noch auf Karl Marx zurückgeht. Er wurde 2015 in Großbritannien zum Labour-Chef. Unerwartet. Besonders aber den Wirtschaftsteil in seiner eigenen Partei, also die politische Mitte-Links-Fraktion hat er häufig vor den Kopf gestoßen. Und damit viele Wähler. Von seiner Brexit-Politik einmal abgesehen, hier hat er nicht einmal versucht, den Remain-Teil anzusprechen, also die 48 % (!), die den Brexit 2016 abgelehnt haben.
Nach mäßigem Erfolg in der Wahl in 2017 hat er 2019 krachend verloren. Erdrutschartig.
Nach der Wahl aber brachte er folgenden Spruch:
„We lost the election, but won the argument,“
Besser kann man das Versagen eigentlich kaum ausdrücken. Niemand schert sich darum, bei einer Diskussion besser ausgesehen zu haben, wenn man die Wahl verloren hat. Und damit jegliche Chance, etwas für seine Wähler zu verbessern.
Die Folge? Ein katastrophaler Brexit und ungeahnte Schmerzen bei ärmeren Bevölkerungsschichten, die den Tories traditionell egal sind.
Die Grünen haben das verstanden. Sie möchten Macht, um grüne Politik umsetzen zu können.
Ich hoffe, dass die traditionellen Grünenwähler das ebenfalls so sehen.
Und sich nicht dagegen sperren.
Denn am Ende verlieren wir sonst alle.
Genauso wie die Briten, die sich vom Intellekt und der moralischen Erhöhung eines Corbyn nichts kaufen können.