Sightseeing satt.
Oder doch nicht ganz so satt. Denn mehr geht immer.
Ich hatte es geschafft zu verschlafen, erst um sieben wachte ich auf, relativ spät für mich. Aber nicht zu spät. Denn wie viele Stunden am Tag kann man wirklich für touristische Zwecke nutzen, bevor es zu viel wird? Bei mir ist es relativ klar, vier bis fünf Stunden sind es, wobei meine Aufmerksamkeit ab einem gewissen Punkt spürbar abnimmt. Lieber bleibe ich irgendwo länger und verteile alles auf mehrere Tage. Das mache ich hier jetzt nicht, aber das ist auch nicht so schlimm.
Wieder radelte ich in die Stadt, es ist wirklich ein Katzensprung, sogar teilweise mit Radwegen. Die sind nicht alle hervorragend, aber gut genug.
Am Piazza XX. Settembre stellte ich wie am Vortag das Rad ab, immer mit einem leicht schlechten Gewissen. Ich habe es in Bordeaux erlebt, dass mein am Vortag gekauftes Rad nicht mehr da war. Nur noch das Schloss. Also ist immer ein wenig Sorge dabei, aber damit kann ich mich nicht aufhalten. Denn dann darf man eigentlich gar nicht aus dem Haus. Es kann immer etwas passieren.

Mein Besichtigungstag begann in der Touristenoffice am Piazza Maggiore. Man merkt, dass sie es nicht mit vielen Touristen zu tun haben. Ich frage mich, weshalb. Die Städte in der Toskana schwappen über, hier ist kein Mensch. Oder nur sehr wenige. Ich entschied mich dafür, einen Teil eines vorgeschlagenen Rundweges tatsächlich zu befolgen. Dabei spielte ich mit dem Gedanken, erst einmal den Torre Asinelli zu erklimmen. Aber das war kompliziert. Ich sollte online ein Ticket kaufen. Mit einem Zeitfenster eine Stunde später. Ich habe mit so etwas Probleme. Auch in Berliner Museen übrigens. Ich will hingehen und unkompliziert ein Ticket lösen. Und hier sollte ich das auch noch online machen, wobei ich sagen muss, dass das WiFi hervorragend war.
Ich entschied mich dagegen. Auch, weil es über 400 Stufen sind, die man aufsteigen muss. Ich betrachtete aber die Türme, besonders den kleineren Turm daneben, den Torre Garisenda. Der ist gefühlt schiefer als der in Pisa. Es sieht so aus, als ob er gleich umkippen würde, schwindelerregend, selbst wenn man nur von unten hinaufschaut. Die Aussichten sind bestimmt großartig. Aber ich wollte an diesem Tag keine Termine. Wer weiß schon, wo ich bin, wenn ich an der Reihe wäre? Ich liebe Spontanität. Ist eben so. Die Kosten waren es nicht, fünf Euro sind gar nichts. In Florenz oder Sienna zahlt man das drei- oder vierfache.

Also setzte ich meinen Rundgang fort, hielt mich nur bedingt an die vorgegebene Route. Erst die Strada Maggiore, mit ihren Arkadengängen, auch wenn das nichts Besonderes ist, die gibt es in jeder Straße. Die Basilika die Santa Maria sah ich mir kurz an, ein barockes Gebäude. Muss es auch geben. Was mich aber mehr interessierte, war das Studentenviertel. Das erreichte ich über die Via G.Petroni.
Was für ein Gewusel. Hier merkte ich erst, wie lebendig diese Stadt ist. Auch schien mir das Semester noch nicht beendet, was mich etwas wunderte. Ich lief sogar in eine der Universitäten hinein. Aus einem bestimmten Grund. Ein Kommilitone von mir aus Rennes hat hier gearbeitet. Vielleicht arbeitet er auch immer noch hier. Wir haben uns seit 20 Jahren nicht gesehen. Die letzte E-Mail von ihm ist zwölf Jahre alt. Ich spielte tatsächlich mit dem Gedanken, ihn hier zu kontaktieren. Aber nur kurz. Als ich die Rezeptionistin sah, die mir vielleicht hätte helfen können, drehte ich mich um und ging. Ich bin schon ein merkwürdiger Kauz. So unsozial. So ungebunden. Ich bin mir bis jetzt nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Ich hätte auch vorher versuchen können, ihn zu kontaktieren, habe es aber nicht getan. Manchmal frage ich mich, warum. Was tickt in mir, dass ich solche Bindungen weder aufrechterhalten kann, noch die wenige Energie aufbringen, sie wiederzubeleben? Vielleicht ist es tatsächlich besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich weiß, das ist ein feiger Satz, der nichts besagt. Denn ich kenne die Antwort auf meine Fragen selber nicht. Ich bin so. Und das Verrückte ist, ich bin damit sehr glücklich. Je weniger Kontakte, desto besser.
Ich lief zurück zum Torre Asinelli, schaute am ehemaligen jüdischen Ghetto vorbei. Laut der Beschreibung muss es wahnsinnig eng gewesen sein, eingemauert und kontrolliert. Mir ging dabei durch den Kopf, dass Vieles, was gerade in Israel geschieht, vielleicht auf diese Jahrhunderte lange Demütigung dieses Volkes zurückzuführen ist. Sie wehren sich eben, aggressiv und resolut. So wie sie es seit Jahrhunderten in den Ghettos lernen mussten. Ich will nichts beschönigen oder gutheißen. Nur mutmaßen.

Ich lunchte kurz, ein kleines Stück Pizza. Nicht zu viel, nicht zu wenig, ich bekam also keinen Verdauungsschock, unter dem ich oft leide. Dann schritt ich wieder die Säulengänge der Strada Maggiore entlang, bog aber bald ab. Denn ich hatte eine weitere Attraktion entdeckt, eher zufällig übrigens. Die Isolani Höfe, die die Strada Maggiore und den Piazza Santo Stefano verbinden. Sie erinnerten mich an Hinterhofreihen in Berlin, nur eben vollkommen anders. Dicke alte freigelegte Balken sah ich, wahrscheinlich Hunderte Jahre alt. In den Höfen haben sich gute Restaurants angesiedelt. Die Höfe selbst sind relativ klein, dadurch angenehm kühl und schattig. Den genauen geschichtlichen Hintergrund aber kannte ich nicht. Ich genoss es einfach, hindurchzuflanieren. Und kam am Piazza S. Stefano heraus.
Dort war ich bereits gestern gewesen, aber die Kirchen dort hatten bereits zu. Heute war es noch früh genug, sie sehen zu können. Schon gestern wusste ich, dass es mit die Ältesten in der Stadt sein mussten. Man sieht es einfach an der relativen Schlichtheit der Gebäude. Bei dem Komplex handelt es sich eigentlich um sieben Kirchen. Er ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen. Der Eingang befindet sich in einem „moderneren“ Teil, ich denke, einer Barockkirche. Beinahe wollte ich schon wieder hinaus. Ich mag den Barock nicht. Aber dann wanderte ich dem Touristenpfad folgend weiter. Und im nächsten Raum entdeckte ich ein Oktagon mit schlichter Backsteinkuppel und gewaltigem Altar. Ich konnte mir auf die Konstruktion an sich nicht wirklich einen Reim machen. Erst als ich einen Innenhof gesehen und ein Schild entdeckt hatte, das die Entwicklung dieser Stätte zeigte. Es hat einfach jeder ein Stück angebaut. Und das über mehr als ein Jahrtausend hinweg. Der älteste Teil muss aus dem vierten Jahrhundert nach Christus stammen, also noch zur Römerzeit entstanden sein. Diesen Teil entdeckte ich eher zufällig, weil ein englischer Führer genau das seiner Gruppe mitteilte. Ein schlichter Bau, keine Malereien, keine Statuen, natürlich ein Kreuz mit dem toten Jesus, aber ansonsten schlicht. Mir ging vieles durch den Kopf. Es war eine Zeit, als diese Religion noch unschuldig war. Als die Institution noch jungfräulich war. Vielleicht ist das auch Unsinn. Aber wenn ich bedenke, welche Grässlichkeiten in den nächsten zwei Jahrtausenden hinzukamen und noch immer hinzukommen, frage ich mich, wie das geschehen konnte. Vielleicht ist es normal. Überall dort, wo Menschen sich hocharbeiten und beginnen, an der weltlichen Macht teilzuhaben, werden sie korrumpiert. Egal, ob es sich angeblich um Heilige handelte oder nicht. Menschen sind immer gleich. So gut sie sich auch fühlen, in dem, was sie angeblich tun.
Im Gegensatz zu den anderen Kirchen gefiel mir dieser Komplex als Ganzes aber sehr gut. Ich mag es, wenn man das Alter spürt. Wenn sich Wände neigen, die Steine sprechen könnten. Ich sah ein ionisches Säulenkapitell, das garantiert nicht für diese Kirche hergestellt wurde. Einige Säulen erweckten ebenfalls meine Aufmerksamkeit. Hier hatte jemand einen oder mehrere römische Tempel wiederverwertet. Es ist aber nicht so eindeutig, oft sieht man ja ganze Marmorblöcke aus Tempeln. Hier schien es homogener, viele rote Ziegelsteine bestimmen eher das Bild.

Vom herrlichen Platz S. Stefano gelangte ich in das Quadrilatero Viertel mit vielen Geschäften und einem immer müder werdenden Reisenden. Ab diesem Zeitpunkt begann meine Aufmerksamkeit tatsächlich zu leiden. Ich setzte mich auf eine Bank am Piazza Minghetti, wo ich gestern bereits gesessen hatte. Ein schöner Ort mit schönen hölzernen geschwungenen Bänken. Gefiel mir.
Ich gab mir noch einen Ruck, besuchte die letzte Kirche, Basilika San Dommenico, wieder Barock, wieder halbherzig. Und dann kam ich noch an der Archiginassoio (einer alten berühmten Bibliothek) vorbei, eher zufällig. Auch hier wandelte ich unter Bogengängen, an die ich mich generell viel zu schnell gewöhnt hatte.
Viereinhalb Stunden war ich unterwegs gewesen. Ich wusste nicht, wo die Zeit geblieben war.
Und es war an der Zeit, sich langsam auf den Rückweg zu machen. Wenn ich noch einmal herkommen sollte, würde ich sicher das eine oder andere Museum erkunden. Und auch einen Turm besteigen. Jetzt, nachdem ich die Stadt etwas kenne, wären auch Termine kein Problem mehr.
Ich finde, dass ich einen guten ersten Eindruck von Bologna bekommen habe. Und einen weißen Fleck auf meiner touristischen Landkarte zumindest etwas mit Farbe habe füllen können. Die Stadt lohnt sich. Sie vibriert. Aber ist nicht verkitscht, so wie toskanische Orte teilweise. Vielleicht sollte ich mir das mal merken. Nicht dorthin fahren, wo alle hingehen. Sondern dorthin, wo sie nicht sind. Aber im Grunde mache ich das meistens schon.
Morgen geht es weiter. Nach Ravenna. Dort gibt es Kirchen, das weiß ich. Aber es lohnt sich. Denn sie sind wie S. Stefano aus der Frühzeit der Christenheit. Als Jesus noch das Gesicht des Zeus hatte, so wie im orthodoxen Christentum. Ein Zeitfenster also in die Antike. Nun, wir sind in Italien. Kein Wunder also. Hier ist die Landschaft damit angefüllt.
Hat es heute gereicht, habe ich Bologna ausreichend besichtigt?
Nein.
Aber trotzdem will ich weiter. Es ist gut, wie es ist.