Ein besserer Tag.
Auch heute erwachte ich zu einem düsteren Himmel, der sich schwertat, Heiterkeit zu verbreiten. Dunkle Wolken sorgten aber für eine angenehme Frische. Natürlich war es erst kurz nach sechs, also ist so etwas vielleicht zu erwarten, aber ich genoss es trotzdem. Es war ein ruhiger Morgen. Einer, an dem ich froh war, es einmal recht früh aus dem Bett geschafft zu haben. Auch einer, an dem ich entschieden hatte, ihn yogafrei zu gestalten. Genauso wie gestern. Manchmal sagt mir der Körper, dass er eine Pause braucht. Das sind nicht so sehr muskuläre Fragen, sondern tatsächlich eher Gelenkgeschichten. So, als ob mein Rücken auch gerne mal nicht belastet werden möchte. Und tatsächlich wanderten die leichten Ischiasschmerzen von links nach rechts. Also gewonnen habe ich nichts, außer der Erkenntnis, dass man manchmal eben nichts gewinnt.

Es war egal.
Als ich abfahren wollte, hellte sich der Himmel tatsächlich auf. Es wurde grell und gleißend und ich war jetzt noch glücklicher über den frühen Start.
Die Strecke nach Bonifacio geht praktisch die ganze Zeit recht steil nach unten. Das ist natürlich einfach, der Rückweg aber hat es natürlich in sich. Doch erst einmal war ich da, wieder am Hafen, den ich mir genauer ansah. Er ist eigentlich auch ganz schön, wenn man ihn einfach mal ohne Menschenmassen entlang spaziert. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte ich ockerfarbene Häuser von vier oder fünf Stockwerken. Ich weiß nicht, ob das auch Wohnhäuser sind, Hotels sind es glaube ich nicht. Jedenfalls passen sie gut ins Gesamtbild, darüber erheben sich Felsen, die sie ummalen. Ich lief weiter, kam zu den übergroßen Jachten.
Ich weiß nicht, was deren Existenz rechtfertigt. Millionen und Abermillionen an Werten, die leer und fast ungenutzt dort vertäut sind. Natürlich sind immer Leute beschäftigt, die sie in Schuss halten, aber das ist doch sinnlos. Lohnsklaven auf See. Die besser dran wären, hätte der Milliardär diese Jacht einfach nicht gekauft und das Geld unter ihnen aufgeteilt. Mich macht diese Form des Luxus fast wütend. Worum geht es eigentlich wirklich? Lieben diese Leute die Fahrten auf dem Meer? Oder das Liegen im Hafen? Ich wette, dass die sich höchstens ein paar Wochen im Jahr überhaupt bewegen. Es geht hier wahrscheinlich nur um die Zurschaustellung von Reichtum. Abartig.
Ich erreichte den Fährhafen hinter dem Jachthafen. Und nach den Erfahrungen von gestern hatte ich wirklich Lust, ein Fährticket nach Sardinien zu buchen. Einfach morgen abfahren. Ich sah später im Internet nach, es würde nur ca. 40 Euro kosten.
Aber dann realisierte ich, dass ich dann ganze fünf Tage auf Korsika verbracht haben würde. Auch wenn ich diese Reise nicht vollständig hier verbringen möchte, ist das doch etwas übertrieben. Ich mag sie ja, nur die Menschen sind eigenartig.

Vom Jachthafen aus entdeckte ich eine Treppe hinauf zur Altstadt. Es war natürlich anstrengend, aber auch nicht viel anders als der Aufstieg in den vierten Stock zu uns. Als ich oben ankam, fand ich fast leere Straßen vor. Es war herrlich, sie entlangzuschlendern. Die Idee, einfach sehr früh herzukommen, war sehr gut. Ich hatte die Touristenströme umgangen, nur wenige andere Reisende hatten die gleiche Idee gehabt. Und sie hatten recht.
Als Erstes ging ich zu einer Treppe, die ich gestern entdeckt hatte: L’Escalier du Roi d’Arragon. Ich wusste nicht, was mich genau erwartete.
Letztlich ist es ein sehr, sehr, sehr steiler Abstieg auf fast Meeresniveau. In Stein gehauene Stufen, darüber ebenfalls behauene Überhänge. Man bekommt einen Helm und soll festes Schuhwerk tragen. Der Ticketverkäufer aber befand meine Trekkingsandalen als ausreichend. Er kennt ja auch die abgelaufenen Sohlen nicht. Ich setzte also den Helm auf und begann den abenteuerlichen Abstieg.
Die Stufen sind hoch und uneben, sodass schon der Abstieg anstrengend ist. Auch ist es unfassbar steil. Mich erinnerte es eher an Klettern als an Stufensteigen. Dutzende Meter geht es in die Tiefe. Problematisch wurde es, als andere Touristen von unten aufstiegen. Dann muss man warten und Platz machen. Es ging letztlich.
Unten angelangt, führt ein schmaler Pfad die Felsen entlang. Die bizarren Gestalten der Klippen wirkte stufenförmig und zackig, beinahe wie eine Säge. Das Meer war recht ruhig, wie muss es sein, wenn es bewegt ist? Wahrscheinlich darf man dann nicht hinunter.
Der Pfad führt vielleicht 150 Meter weit, dann versperrte ein eisernes Gitter den Weg. Ich blieb noch etwas, um die Stimmung zu genießen, aber dann kamen weitere Touristen. Jeder will etwas davon abhaben. Es war wirklich noch nicht voll. Gestern aber waren mir wahre Ströme von hier entgegengekommen, also hatte ich den Besuch auf heute verschoben. Es war wirklich nicht viel los. Gerade hier lohnt es sich, auf die Einsamkeit zu warten.
Der Aufstieg war wie erwartet.
Ich hatte keine Illusionen. Es wurde steil, anstrengend und schweißtreibend. Mit den Händen zog ich mich unterstützend am Geländer hoch. Hohe Stufe um hohe Stufe. Korsika ist eine hügelige Angelegenheit, selbst bei menschengemachten Spaziergängen.
Dann war ich wieder oben und schwor, dass es mein letzter Aufstieg für heute gewesen sein sollte. Ausgenommen natürlich die Rückfahrt zum Campingplatz, aber das ließ sich nicht umgehen.

Wieder wanderte ich etwas durch die Gassen. Die Restaurants machten gerade erst auf, Kellner stellten Tische und Stühle um, deckten Tische, falteten Servietten. So wie ich früher, vor fast 30 Jahren, als mich eine Laune dazu brachte, Hotelfachmann werden zu wollen.
Ich habe es durchgestanden, aber nie in dem Beruf gearbeitet. Schlau, wie ich finde.
Und irgendwie war es dann vorbei.
Bonifacio ist klein und es wurde langsam aber sicher wieder voller. Und heißer. Noch war es erst kurz nach zehn. Also stieg ich etwas ab, nur um zum gegenüberliegenden Felsen aufzusteigen. Manchmal geht es eben nicht ohne. Von hier aus hatte ich hervorragende Ausblicke auf die Stadt, die übrigens noch besser werden, je weiter man sich davon entfernt. Es war eine Art Heidelandschaft auf den Klippen, immer wieder mit Aussichtspunkten. Also wanderte ich in Richtung des entfernten Leuchtturms. Nur wenige Wanderer verirrten sich gerade hierher. Auch das sollte sich später ändern. So aber hatte ich wirklich Zeit und Muße, die Landschaft aufzunehmen. Sie ist wahrlich spektakulär. Und Bonifacio, das schon sehr dominant wirkt, tritt dabei sogar in den Hintergrund. Wenn ich wählen müsste, würde ich sagen, dass die Küstenlandschaft die Schönheit der Stadt sogar noch übersteigt. Das ist natürlich Blödsinn, denn die beiden gehen eine untrennbare Symbiose ein. Diese wehrhafte Stadt erhebt sich wuchtig über den kantigen Klippen. Das Weiß der Steine kontrastiert die farbigen Gebäude, die in der Sonne leuchten.
Aber irgendwann ist man auch dafür zu weit weg. Die Stadt verschwindet nicht, wird aber irgendwann zu sehr weichgezeichnet. Die Konturen verschwimmen dann.
Ich wanderte bis zu einer Straße, hätte Gelegenheit gehabt, wieder zum Meer abzusteigen. Und weigerte mich. Also drehte ich mich um. Auch wurde es immer heißer.
Ich lunchte noch an einem alten Gebäude, dann, gegen zwölf, entschied ich, dass es Zeit war, den Besuch in Bonifacio für beendet zu erklären. Ich radelte nur kurz zum Supermarkt, dann zurück zum Campingplatz, wo ich mich entsprechend ausruhe. So verbrachte ich tatsächlich die heißeste Zeit des Tages, endlich einmal angemessen.
Morgen geht es weiter. Dank des Ärgers gestern, fahre ich mit dem Fahrrad. Wieder sehr früh. Hoffe ich.
Das hat sich heute jedenfalls bewährt.