Ein schöner Tag heute.
Einer, mit dem ich zur Abwechslung einmal wirklich zufrieden bin, obwohl ich eigentlich nur ein paar Stunden unterwegs war. Aber das reicht ja im Grunde.
Am Morgen konnte ich mir Zeit lasen. Oder besser: Ich musste. Manchmal trifft man auf Campingplatzbetreiber, die es einem nicht gerade leicht machen. Sie sind im Grunde stets nett und freundlich, aber so eigen, dass es anstrengend sein kann. Der Betreiber hier checkt Leute wie mich immer nur einen Tag ein. Am nächsten Tag muss man dann vor Zwölf Bescheid sagen, ob man noch länger bleiben will. Der Nachteil heute: Die Rezeption macht erst um neun auf, will heißen, so lange musste ich warten, bis ich aufbrechen konnte. Ich weiß nicht, warum das so sein musste, schließlich hatte ich gestern schon gesagt, dass ich zwei Nächte bleiben wollte. Ein weiterer Vertreter dieser Spezies heißt Makis und betreibt den besten Campingplatz auf den Kykladen. Auf Sifnos. Immer wieder kehre ich dorthin zurück. Er hat die Angewohnheit, in der Nachsaison die Camper zusammenzuhalten. Alle campen auf einer kleinen Fläche in der Mitte des Platzes. Das ist ultimativ nervig. Im Grunde könnte man sich überall verteilen. Aber so hockt man ständig auf einem Haufen. Na ja, jetzt ist es egal. Um neun also sagte ich Bescheid und regelte auch gleich die Rechnung. Auf diese Weise hatte ich alles erledigt, was ich auf diesem Platz noch zu erledigen hatte. Und konnte meinen Tag beginnen.

Ich hatte mich für eine Radtour entschieden, die am Ende eher einer Radschiebetour glich, weil es ständig bergauf ging.
Ich hatte vom Meer aus ein Dorf in den Bergen gesehen, dort wollte ich hin. Cervione heißt es und sah zumindest vom Meer aus spektakulär aus. Selbst von unten türmt es sich am Berg auf. Und es lag hoch oben auf einem Hügel. Ich wusste, dass es extrem anstrengend werden würde, es zu erreichen.
Letztlich war es gar nicht so schlimm. Wahrscheinlich bin ich in den letzten Wochen wirklich etwas kräftiger geworden, sodass ich zumindest fünf Kilometer radeln konnte. Danach wurde es einfach zu anstrengend, weshalb ich noch drei weitere schob. Immerhin schaffte ich es, das Dorf in unter einer Stunde zu erreichen. Um zehn war ich fast oben.
Als ich Cervione, zumindest die ersten Häuser, erreicht hatte, wurde es noch steiler. Ich schob das Rad weiter, was zu diesem Zeitpunkt zur Tortour wurde. Daher suchte ich eine Möglichkeit, es anzuschließen. Es war nicht leicht. Die meisten Pfähle, die infrage kamen, waren aus Holz und viel zu dick für mein kurzes Faltschloss. Irgendwann fand ich die Gelegenheit, es an einem Geländer am Kindergarten abzustellen. Ich war fast schon im Zentrum.
Aber erst fast. Erst musste ich eine weitere Treppe nach oben. Dann hatte ich das Dorf soweit erst einmal erreicht.

Was ich fand, war ein typisch korsisches Bergdorf. Verwitterte Häuser, alt und gebogen, trotzdem prächtig, aber manchmal auch baufällig.
Erst lief ich die Hauptstraße entlang, eine ganze Reihe Cafés boten dort ihre Dienste an. Schon hier beschloss ich, nachher einen Kaffee zu trinken. Die Aussichten auf die Berge, die sich hinter dem Dorf erhoben, war einfach zu herrlich, um sie zu ignorieren. Ich war so froh, hier zu sein, dass ich endlich einmal wirklich glücklich war. Ich hatte den Eindruck, gerade wesentlich eher die Welt der Korsen zu entdecken, als ich das am Strand jemals könnte. Noch hatte ich das Dorf gar nicht wirklich gesehen, also entschied ich mich dazu, mich in die Gassen zu schlagen.
Wenn ich gedacht hatte, dass meine Tour hier leicht werden würde, sobald ich angekommen war, wurde ich eines Besseren belehrt. Ich konnte sicher weitere 50 Meter in die Höhe steigen, bis zum letzten Haus. Aber soweit war ich noch nicht. Erst einmal besichtigte ich die Kirche. Ein feuchter Kellergeruch kam mir entgegen. Ich bin mir sicher, dass das Dach undicht ist. Ich setzte mich einen Augenblick lang auf eine Bank. Der Weg hierher saß mir tatsächlich in den Beinen. Auch die Strecke gestern. Ich fragte mich, ob Jesus etwas dagegen haben würde, dass ich mich in seinem Haus ausruhte. Eine eigenartige Frage für jemanden, der die Existenz eines Gottes ablehnt. Aber letztlich war Jesus wahrscheinlich einfach nur ein Mensch. Und wenn er so war, wie in der Bibel beschrieben, dann hätte er nichts dagegen gehabt, wenn Leute sich ausruhten. Ich musste über meinen inneren Monolog fast lachen.
Der Platz vor der Kirche gefiel mir außerordentlich gut. Ein Café mit Stühlen und Tischen dominiert ihn, überall entdeckte ich die Patina der Zeit, krümelnde Steine, dunkler Teint des Putzes.
Und nichts stört mehr beim Verfassen eines deutschen Textes als sich unterhaltende Franzosen in der Nähe.
Aber weiter.

Von der Kirche aus stieg ich höher. Durch Gassen und immer wieder kleine Plätze. Ich wanderte so langsam wie möglich, um alles aufzunehmen. Wenn sich ein Feigenbaum näherte, erkannte ich es inzwischen schon, bevor ich ihn zu sehen bekam. Er riecht einfach unglaublich süß und betörend. Viele dieser Bäume tragen auch Früchte, aber es ist noch zu früh für die Ernte. Ich bemerkte an den Häusern, dass sich merkwürdige eingefasste Balkone daran befanden, die nachträglich aus Beton angebracht worden sein mussten. An einem baufälligen Haus verstand ich, was es damit auf sich hatte. Es waren Nasszellen. Toiletten. Duschen. Früher, als das Dorf entstand, hat es das noch nicht gegeben, zumindest nicht in dieser Form. Und so haben sich die Leute nachträglich beholfen.
Immer weiter stieg ich auf, schon konnte ich von oben auf den Kirchturm blicken, dessen Spitze nun schon unter mir lag. Vor mir die herrliche Aussicht auf das Meer, das weit weg schien. Eine Welt weg. Ich hatte gar nicht mehr den Eindruck, überhaupt noch am gleichen Ort zu sein. Vor einer Kapelle, bei den letzten Häusern des Dorfes, ließ ich mich für ein paar Minuten nieder und genoss eben diese Aussicht. Alles war so friedlich und ruhig. Unten, am Meer, herrschten die Touristen. Hier oben aber waren sie nicht. Auch meine Probleme waren plötzlich so weit entfernt. Es war, als hätte ich sie unten am Wasser gelassen.
Für meine Verhältnisse blieb ich wirklich lange sitzen. Dann lief ich weiter, stieg wieder ab.
Um ehrlich zu sein, braucht man nicht lange, um Cervione zu erkunden. Ich zog aber meinen Aufenthalt in die Länge.
Als ich wieder an der Hauptstraße war, setzte ich mich auf die Terrasse eines Cafés. Mit direktem Blick auf die Berge. Zwei Gipfel konnte ich sehen. Bei der Hitze war es sicherlich keine gute Idee zu wandern, aber auch aus der Ferne sah es interessant aus. Im Gegensatz zu Griechenland ist Korsika wirklich grün. Einladend und beinahe üppig. Auch die Trockenheit scheint den Pflanzen nichts auszumachen. Was für eine unglaubliche Aussicht. Der Kaffee war übrigens italienisch gut, nicht die französische Plörre. Auch hier saß ich eine Weile. Schulkinder begannen, die Cafés des Ortes zu besiedeln. Jetzt wusste ich also, warum es hier so viele davon gibt. Auch Restaurants, mindestens drei hatte ich gesehen. Vielleicht kommen doch irgendwann die Touristen? Ich hatte jedenfalls das Gefühl, eher hierher zu gehören als ans Meer.

Die Abfahrt wurde dann kurz. Aber spektakulär.
Ich musste nicht ein einziges Mal in die Pedale treten, merkte erst am Meer, dass ich die ganze Zeit im ersten Gang gewesen war. So steil war es gewesen. Wahrscheinlich brauche ich bald neue Bremsen am Rad. Es ist schon merkwürdig, da fährt und schiebt man die ganze Zeit eine Stunde lang bergauf, nur um alles in sieben Minuten wieder hinunterzurasen.
Jetzt sitze ich vor dem Zelt und schreibe. Es ist mein Geburtstag und er hätte nicht besser sein können. Die letzten beiden Geburtstage habe ich in Gräbendorf in der Datsche verbracht, dank Corona. Jetzt aber ist es anders. Auch wenn die Pandemie nicht vorbei ist. Ich weiß nicht, ob ich schon ein paar Worte darüber verloren habe. Aber der Gedanke, mich doch noch irgendwo anzustecken, reist immer mit. Bis jetzt ist es gutgegangen. Ich trage keine Maske mehr. Und bin auch nicht gerade vorsichtig. Was soll man machen?
Zu düstere Gedanken für diesen herrlichen Tag. Ich gehe sicher nochmal zum Strand.
Aber jetzt erst einmal Yoga. Eine stille und einfache Session. Denn ich spüre diesen Tag in den Beinen.