Die erste Nacht im Zelt war unglaublich kalt. Es ist Anfang Mai, die Nächte sind somit nicht die wärmsten, aber mit diesen Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht ist es die Nähe zum Fluss, die abendliche Luftfeuchtigkeit. Jedenfalls fror ich in der Nacht etwas, was die Qualität des Schlafes definitiv reduziert. Aber so ist es jetzt eben, ich bin eigentlich gut ausgerüstet. Nur hätte ich die Socken anbehalten sollen. Ich kriege es schon noch heraus.
Erst gegen acht schälte ich mich aus dem Daunenschlafsack. Viel zu spät. Aber ich war nicht übermäßig in Eile. Irgendwie brauche ich auf dem Campingplatz morgens immer etwas länger. Jedenfalls war ich gegen zehn Uhr bereit zum Aufbruch. Ich wollte nach Chambord.
Der Rough Guide beschreibt es als Supertanker der französischen Châteaus. Ich hatte jedenfalls etwas darüber gelesen. Hunderte Räume, Hunderte Kamine, 30 Jahre Bauzeit, seither ständiges Renovieren und ausbessern. Francois I. hat es errichten lassen, es wird gemunkelt, dass Leonardo da Vinci mitgeholfen haben soll, es zu entwerfen. Zeitlich passt das zum Aufenthalt des großen italienischen Genies, der hier sein Leben beendet hat. Francois I. hat in diesen 30 Jahren Bauzeit gerade einmal 42 Tage dort verbracht, hat seine wesentlich wohnlicheren Gemächer in Blois vorgezogen. Viel zu zugig, viel zu kalt, viel zu unwohnlich. Trotzdem hat er es weiterbauen lassen. Ohne Unterlass, trotz Kriegen, Geldnot und Pandemien. Ein Vanity Project erster Güte, würde ich sagen, wenn ich gemein wäre. Ein Kunstwerk als Lebenswerk, wenn ich wohlwollend antworten würde. Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte.
Erst einmal aber musste ich hin.
17 Kilometer sagten die Schilder am Campingplatz. Das klang nicht viel. War es auch nicht unbedingt, aber neue Gegenden haben immer eine ganz eigene Geschichte beim Reisen. Der Radweg führt direkt an der Loire entlang, gibt Aussichten auf Dörfer und auch weniger bekannte Chateaus frei. So also hielt ich immer wieder an, um Fotos zu machen. Und das verzögerte natürlich meine Ankunft. Die Fahrt lohnte sich schon deshalb, man könnte auch ohne Ziel einfach hier entlang radeln. So aber zog sich die Tour etwas in die Länge.
Das Château schon in Sichtweite hielten mich ein paar Mitarbeiter des hiesigen Office de Tourisme an. Ich musste einen Fragebogen ausfüllen. Nun, ich musste nicht, tat es aber. 60 Fragen! Ernsthaft?
Wenigstens hatten sie einen Bogen auf Englisch. Französisch wäre wirklich herausfordernd gewesen. Und ich hatte ja nicht den ganzen Tag Zeit. Zur Belohnung erhielt ich einen Stift und eine gelbe Warnweste. Immer sicher radeln. Auch nicht schlecht. Sinnvoll ist es allemal.

Dann erreichte ich das Château. Schon von weitem ist es beeindruckend. Verschnörkelt, verziert, aber auch ein wenig klobig türmt es sich majestätisch auf.
Und zu diesem Zeitpunkt befand ich mich noch 200 Meter entfernt.
Die nächste Hürde war das Erstehen eines Tickets. Ich weiß nicht, warum um halb eins am Samstag nur zwei Ticketschalter geöffnet hatten. Und warum das Kaufen eines Tickets bei manchen Leuten fünf Minuten dauert. Wirklich, ich habe keine Ahnung. So dauerte es eine Viertelstunde, bis ich an der Reihe war, bei ca. 6 Parteien, die sich vor mir befunden hatten. Mein Ticket hatte ich innerhalb von Sekunden. Ist das tatsächlich so schwer?
Die Gegend um das Schloss herum wird von vielen Leuten als Ausflugsziel genutzt. Viele gehen gar nicht hinein, sondern genießen die Parkanlage, die gratis ist. Auch ist das Château aus der Ferne ebenso beeindruckend, man muss es nicht unbedingt von innen sehen. Ich schon, denn deshalb war ich ja hier.
Als ich eintreten wollte, musste ich wieder durch die Sicherheitsprüfung. Tatsächlich hatte ich Glück, kein Campingmesser dabei gehabt zu haben. Unfassbar, woran man inzwischen alles denken muss. Nicht, dass die Sicherheitsleute es wahrscheinlich gefunden hätten. Sie fragten mehr, als dass sie suchten.
Dann war es endlich so weit.

Das Château ist wirklich erschlagend. Dessen Herzstück stellt der sich windende Doppelaufgang im Zentrum dar. Das Schloss ist wohl wie ein griechisches Kreuz errichtet, ungewöhnlich für einen nicht-sakralen Bau. Auch hier hält sich das Gerücht, dass da Vinci maßgeblich an dieser raffinierten Doppeltreppe beteiligt gewesen ist. Zumindest hat er so etwas immer wieder gezeichnet.
Das Château hat so viele Räume, dass es mir schwerfällt, jetzt alles, was ich gesehen habe, zu beschreiben. Etliche Zimmer waren prunkvoll und dienten sicher der Repräsentation. Andere waren tatsächlich für den Alltagsgebrauch, auch von Königen und Königinnen nach Francois I. Louis XIV. war offensichtlich ebenfalls oft hier. Aber der letzte Anwärter auf den Thron fast gar nicht, weil er fast sein gesamtes Leben im Exil verbracht hat. Ein bisschen tragisch, denn er hat dafür gesorgt, dass es instand gehalten wurde. Es muss eine Art Traum für ihn gewesen sein, dieses Schloss zu sehen und vielleicht auch eines Tages zu besitzen.
Dabei las ich ein wenig über die Geschichte dieser Zeit.
Für mich schien es unvorstellbar, dass es im nachrevolutionären Frankreich noch so etwas wie einen König geben könnte. Aber es muss Leute gegeben haben, die immer noch diesem monarchistischen Traum anhingen. Auch dieser letzte Thronfolger, Henri d’Artois, der, so wie es erschien, trotzdem ein sehr sinnvolles und erfülltes Leben gelebt haben muss. Jedenfalls ging sein Traum, Chambord zu sehen, um die 1870 in Erfüllung. Nicht aber sein Traum, König zu werden. Das war offensichtlich nach der französischen Niederlage gegen Preußen endgültig passé. So spät erst. Erstaunlich. Da köpft man einen König und seine ganze Familie. Und alle anderen Adligen, denen man habhaft werden konnte, nur um die Idee einer Monarchie immer noch nicht ganz zu beerdigen.
Na ja, die Briten haben auch einen König geköpft. Wären aber nie wirklich auf die Idee gekommen, die Monarchie abzuschaffen. Egal.

Was mich besonders faszinierte, waren die Privat-Gemächer der Könige. Kleine, fast finstere Räume. Ich habe den Eindruck, dass wir heute (im dekadenten Westen) fast ausnahmslos besser leben als diese Könige. Zumindest wohnen wir besser. Unsere Wohnungen lassen sich wenigstens heizen. In diesem Château war es aber trotz des warmen Frühlingstages wirklich kühl, fast wie in einer Höhle. Ich kann mich auch nicht vorstellen, dass die gewaltigen Feuerstellen daran viel ändern können. Jedenfalls roch es nach kaltem Rauch. Jemand heizt hier also manchmal.
Im Schloss ist auch genügend Platz für Kunstausstellungen modernerer Art. Manchen Räume stehen übrigens einfach leer. Es ist wirklich beeindruckend. Ganz oben aber kann man die Dachkonstruktionen und Aufbauten bewundern. Türmchen und Türme, verspielt und kunstvoll. Einiges war abgedeckt, weil es renoviert wurde.

Am Ende sah ich mir noch die Küche an, die im Sinne des 18. Jahrhunderts wieder hergestellt worden ist. Sie ist tatsächlich ziemlich klein. Ich kenne größere aus viel, viel kleineren Herrenhäusern oder Châteaus.
Die Gartenanlage ist ebenfalls sehenswert. Formel und französisch, wohlgeordnet, mit dem Château im Mittelpunkt. Es gibt sogar einen angedeuteten Burggraben. Alles fake, das Schloss hatte nie einen militärischen Hintergrund. Aber einen für die Jagd. Laut Rough Guide schließen sich 50 Quadratkilometer Wälder an, die zur Jagd genutzt wurden. Barbarisch, damals setzte man Hunderudel ein, die die Tiere zu Tode hetzten. Sehr ehrenvoll. Ich weiß nicht, ich kann darin nichts Sinnvolles erkennen. Auch halte ich entsprechende Traditionen für fadenscheinig. Es geht doch nur um die Lust am Töten und am Ergötzen des Leidens der Tiere. Eine halbe Etage des Schlosses widmet sich übrigens diesem Thema. Ich habe es mir nicht so genau angesehen.

Gut drei Stunden hatte ich hier verbracht. Danach sah ich mir noch die Küchengärten an, die sich außerhalb der Anlage befinden und frei zugänglich sind. Sie befinden sich direkt bei den Ställen. Pfiffig, die mit Mauern umrandeten Beete sind allesamt gut gedüngt. Es wuchs noch nichts, aber ich sah Hunderte von Setzlingen, die sich gerade an die Zeit im Freien gewöhnten. In ein paar Wochen wird hier alles sprießen.

Der Weg zurück ging dann übrigens wesentlich schneller. Ich war ziemlich müde, aber mehr als nur zufrieden. Ich hatte mal wieder ein Highlight gesehen. Und es in vollen Zügen genossen.
Mal sehen, wie die Nacht wird.
Morgen habe ich nicht so viel vor. In der Stadt findet ein Trödelmarkt statt, den sehe ich mir an. Dabei werde ich meine Beine etwas schonen, ich spüre die schmerzenden Muskeln und Sehnen. Eine Woche radeln. Da muss man auch mal Pause machen. Außerdem komme ich noch in dieser Reise an. Auch wenn ich bereits mitten drin bin.