Es sind nachdenkliche Zeiten. So sehr, dass ich fast vergessen habe, dass ich heute auf den Tag zwei Monate unterwegs bin.
Wie heiter doch diese Reise begonnen hat. Und wie düster ist sie jetzt.
Ich wachte heute erst um sieben Uhr auf. Für mich ist das schon fast ausschlafen. Und trotzdem wollte ich nicht wach werden. Oder aufstehen. Ich hatte einfach keine Lust dazu.
Letztlich machte es nicht viel, denn das, was ich vorhatte, würde nur einige Stunden in Anspruch nehmen.

Es war tatsächlich so, dass ich überlegte, diese Reise abzubrechen. Das Problem mit Problemen ist, dass man sie sowieso überall hin mitnimmt. Sie verschwinden ja nicht. Ich weiß aber, dass sie mich hier überall hin begleiten. Und sie bedrücken mich. Eine Antwort habe ich übrigens nicht. Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls hatte ich mir diese Reise, auf die ich mich seit drei Jahren freue, anders vorgestellt. Es wird in meinem Leben Veränderungen geben. Und ich fürchte, dass sie größer sein werden, als ich mir je hätte vorstellen können. Menschen werden verschwinden. Bei Jemandem, der nicht viele Bezugspunkte hat, ist das nicht einfach. Aber so soll es sein. Außerdem denke ich, dass wir unsere Wohnung verlieren werden. Komischerweise ist es das, was mich wenig beeindruckt, auch wenn es die Wohnung ist, in der ich auch aufgewachsen bin. Natürlich ist es schwierig, eine Wohnung in Berlin zu finden. Aber ich glaube nicht, dass es unmöglich ist.

Das ist also ein Teil der Situation, die mich erwartet, wenn ich nach Berlin zurückkehre. Was also eine unbeschwerte Zeit in interessanten Ländern hätte werden sollen, ist einer Zeitenwende gewichen. Und die beschäftigt mich. Und das liegt über allem, in jeder Sekunde, die ich unterwegs bin. Egal, ob ich am Meer oder in den Bergen bin. Ich habe schon überlegt, ob ich rasch nach Griechenland übersetzen soll. Griechenland hat meines Erachtens Heilungskräfte, so habe ich das jedenfalls immer empfunden. Aber ich glaube, das wirkt in diesem Fall nicht. Die Krisen, die ich dort verarbeitet habe, waren allesamt vorbei. Der Neuanfang hat dort immer stattgefunden. Das ist jetzt nicht so. Die Krise beginnt eigentlich erst.
Ich weiß es nicht.
Unschlüssig stehe ich da, müsste Entscheidungen treffen, auch für die nächsten Tage. Aber es ist mir alles egal. Auch die Weiterreise. Es macht alles keinen Unterschied. Vielleicht ist es doch besser, das Ganze abzubrechen. Zu Hause könnte ich mich wenigstens in die Arbeit stürzen, in Berlin schreiben, in Gräbendorf renovieren. Was auch immer. Jedenfalls wäre ich beschäftigt. Hier, in Frankreich und/oder Italien muss ich für Traveltainment sorgen. Und das fällt mir gerade wirklich schwer.

Gegen zehn Uhr machte ich mich doch auf in die Stadt. Sie liegt nur wenige Minuten zu Fuß entfernt, ich weiß auch nicht, warum ich gestern das Rad dabei hatte. Alles lässt sich leicht erlaufen.
Ich wählte einen anderen Weg, den Chemin du Patrimoine. Ein steiler Treppenweg einen Berg hinauf, an den hübschen Häusern mit Patina vorbei. Am Ende entdeckte ich einen Panoramablick, der mir gestern entgangen war. Eine Plattform unterhalb der Zitadelle. Der Anblick der Berge baut mich normalerweise auf. Heute nicht. Es hat alles wenig Zweck. Die Zitadelle aber sah von hier aus dramatisch aus, sie hängt praktisch über der Plattform. Also nicht direkt darüber, sehr versetzt. Dahinter rahmen die Berge sie ein. Es lohnt sich.
Von hier aus musste ich nur noch etwas weiter aufsteigen, bis ich die Zitadelle und das Museum darin erreichte. Es kostete nicht viel, etwas über fünf Euro. Beinhaltet war ein Rundgang durch die alten Wehranlagen im Vauban-Stil, soweit ich das verstanden habe. Das Wesentliche hier oben ist die Lage, nicht die militärische Geschichte. Ich glaube, die Zitadelle hat nie das gesehen, wofür sie gebaut wurde. Der Krieg hat sie nie erreicht. Auch etwas Gutes.
Die Sonne brannte zu diesem Zeitpunkt schon mörderisch, sodass ich mich beeilte, die äußeren Anlagen zu besichtigen. Wieder drinnen genoss ich die gekühlten Räume, die mich aber sofort ermatteten. Den Wechsel zwischen der Hitze und der Klimaanlage verträgt mein Kreislauf nur noch bedingt. Es war nicht leicht.
Das Museum ist eigentlich ein Heimatkundemuseum. Es beinhaltet eben alles, was man im Allgemeinen dort erwartet. Steinkunde, Handwerk, Ziegenhirten. Webstühle waren ebenso ausgestellt, wie landwirtschaftliches Gerät. Die Infotafeln waren alle auf korsisch und französisch. Kein Englisch dabei. Mir war heute nicht danach, mich lange damit aufzuhalten. Auch über die Zitadelle gibt es Informationen. Es muss ein Kampf gegen die eigene Bevölkerung gegeben haben, die wegen der Neubauten ihre Häuser nicht aufgeben wollten. Die Militärs aber wollten sie möglichst billig enteignen. Und wie so oft haben die sich durchgesetzt. Die Zitadelle wurde gebaut, die Leute umgesiedelt.
Es gab noch eine temporäre Ausstellung zum Thema Architektur auf der Insel. Es war ziemlich interessant. Am Meisten aber beeindruckte mich ein Kunstfilm über das Meer. Besser gesagt, über Wellen. Und deren destruktive Wirkung. Ich sah mir die Aufnahmen vollständig an. Es war ziemlich grausam. Das Wasser machte vieles kaputt. Ich glaube, auch die Tsunami von vor einigen Jahren war dabei. Es ist grausam, aber ich habe vergessen, wo es passiert ist. Der Film spiegelte jedenfalls meine Stimmung bestens wider. Die Wellen waren wie das Leben. Man kann ihnen nicht ausweichen, sie reißen alles mit sich. Vielleicht sollte man sich einfach ergeben und es geschehen lassen.
Im Grunde war das der Höhepunkt des Tages. Ich unternahm eigentlich nichts mehr, ging nur noch einen Espresso trinken. Dann hatte ich genug. Ich kehrte zum Platz zurück und versenkte meine Waden im nahen Bach. Das war wundervoll und beruhigend. Wahrscheinlich mache ich morgen den ganzen Tag nichts anderes, denn es sollen fast 40 Grad werden. Wenigstens ist hier der Bach.
Heute war yogafrei. Morgen mache ich aber wieder welches. Es hilft. Aber nicht vollständig. Vielleicht kann man das auch nicht erwarten.
Morgen bin ich noch hier, dann werde ich anfangen, darüber nachzudenken, wie es weitergeht. Erst einmal herunter von der Insel. Alles andere wird sich dann zeigen.