Um sechs war die Nacht zu Ende.
Nicht, dass ich unbedingt aufstehen wollte, aber es war eben so. Die Hitze machte sich nun bereits in den frühen Morgenstunden breit. Es wird immer heißer. Es waren sicher schon über 20 Grad, im Grunde die ganze Nacht hindurch. Noch vor sechs Wochen habe ich nachts manchmal vor Kälte gezittert, das ist schwer vorstellbar. Aber jetzt ist sowieso offiziell Sommer.
Die nächsten zweieinhalb Stunden verbrachte ich mit der Abreiseroutine. Kaffee, warten, bis die Schilddrüsenmedizin wirkt, also Yoga, dann erst Frühstück, dann alles abbauen. Das nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, aber ich trödelte. Und warum auch nicht? Mein Zug zurück ging erst um halb zehn. Das Bezahlen meiner Campingplatzrechnung ging auch sehr schnell, um kurz vor neun hatte ich alles aufgeschnallt und war bereit abzufahren.
Noch vor neun war ich dann am Bahnhof, es sind eben kurze Wege. Zu meiner Überraschung musste ich dieses Mal nichts für das Faltrad bezahlen. Musste ich eigentlich auch vor drei Tagen nicht, aber das hatte die Bahnangestellte nicht gewusste. Faltrad eben. Nicht Fahrrad. Das Gleiche gilt auch für den Bus, meinte die Dame. Es ist also so, dass hier offensichtlich niemand weiß, dass Falträder gratis transportiert werden, so wie auf dem ganzen Kontinent Europa auch, soweit ich das weiß. Was für ein Aufwand.
Egal.
Der Zug hatte jedenfalls Verspätung, warum, war nicht ersichtlich. Und es kam, wie es kommen musste, jemand stand draußen, rauchte noch, plötzlich aber gingen die Türen zu.
So eine Aufregung.
Die Dame hatte aber Glück, dass der Zug noch einen Augenblick stand, so konnte sie den Schaffner noch dazu bringen, sie hineinzulassen. Ich hätte mich beölen können. Ich stellte mir vor, das würde mir passieren. Mit dem ganzen Kram an Bord, Rucksack, Fahrrad, alles eben.
Lustige Vorstellung.
Grauenhaft.

Ich bewunderte die Gegend, durch die wir hier fuhren. Vom Fensterplatz aus hatte ich eine gute Aussicht auf die raue Bergwelt. Flüsse suchten sich ihren Weg aus den Felsen, hohe kahle Spitzen ragten über den grünen Hügeln, hübsche Bergdörfer zogen ebenfalls vorbei. Ich war viel zu kurz hier gewesen. Aber es war tatsächlich zu heiß. Besonders die Bergdörfer haben es mir angetan, das mache ich vielleicht mal. Eine Wanderung von Dorf zu Dorf. Mal sehen.

Das Schöne an einer Bahn ist, dass sie anhalten kann, wo man möchte. Tatsächlich schaffe ich es, nur 100 Meter Luftlinie vom Campingplatz entfernt auszusteigen. Alles war schneller erledigt, als ich gedacht hatte. Wundervoll. Der Platz ist nicht der Ruhigste, liegt aber ideal, wenn ich in zwei Tagen die erste Fähre nach Italien erwischen möchte. Jedenfalls liegt er direkt am Strand. Der natürlich schattenlos ist.
Erstmal ruhte ich mich aus, dann aber schwang ich mich auf das Rad. Die Stadt liegt nicht weit entfernt, vielleicht drei Kilometer. Es ließ sich bequem radeln, sogar auf einer Art Radweg.

Ich mochte Bastia auf Anhieb. Es ist eine Hafenstadt mit typischer Patina. Die Häuser sind bunt, aber nie ganz sauber, manches bröckelt vor sich hin. Die Gebäude würfeln sich um den Hafen herum auf, in denen kleinere Yachten liegen. Das Ufer ist natürlich von Restaurants und Cafés gesäumt. Sie alle warten sicher auf die Hauptsaison, die aber noch nicht wirklich angekommen ist. Wahrscheinlich geht es hier erst im August wirklich los.
Ich gönnte mir die erste Kugel Eis, seit ich abgefahren bin. Eigentlich ein bisschen peinlich. Aber so ist es. Dann lief ich einfach durch die Gassen, in Richtung Fährhafen. Die Stadt ist ein bisschen neuer, zumindest wirkt sie so. Die echte Altstadt sollte ich erst später finden. In diesem Teil aber traf ich auf herrliche Plätze und sogar breite Alleen. Eigentlich war es nur ein einziger ein Platz vor dem Fährhafen, der aber schön von Bäumen gesäumt ist. Hier gab es unzählige Bars und Cafés. Alle fast leer. Wie können die sich halten? Vielleicht machen sie das Geld tatsächlich nur im August, der wirklichen Hauptsaison. Das müssen schreckliche vier Wochen sein. Aber lukrative.

Ich wanderte langsam wieder zurück in Richtung Yachthafen. Und dann entdeckte ich die Altstadt, die von der Bastion umgeben ist. Sie erinnerte mich fast ein wenig an Lucca in der Toskana. Die bunten Häuser, vielleicht vier Stockwerke hoch, die engen Gassen, und natürlich herrliche Ausblicke auf das Meer. Nun, letzteres hat Lucca nicht zu bieten. Hier schlenderte ich eine Weile hindurch, genoss die Atmosphäre. Und fragte mich, warum ich in Ajaccio gelandet bin, am Anfang der Reise hierher, und nicht in Bastia, das viel netter ist. Und nicht so verkitscht. Napoleon spielt hier jedenfalls keine Rolle.
Das reichte mir für einen ersten Eindruck, ich habe ja noch den morgigen Tag. Mehr ist hier nicht zu tun. Es wird auch der Abschiedstag von Korsika. Zweieinhalb Wochen war ich hier. Ein erster Eindruck eben. Aber mich zieht es weiter. Unruhig wie immer, noch unruhiger als sonst. Vielleicht liegt es auch ein bisschen an Corona. Die ganzen Jahre an reisetechnischer Enthaltsamkeit.
Ich finde allerdings, dass es für das Erste auch reicht. Es gibt noch viel mehr zu entdecken, aber das ist immer so.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, ein paar Sachen zu besorgen. Es kostete mich zwei Stunden, um eine vollkommen überteuerte Gaskartusche zu bekommen. Ich musste in zwei (!) Hypermarchées. Die sind schon einzeln kaum zu ertragen. Viel zu groß. Und jetzt bin ich froh, erst einmal wieder auf dem Campingplatz zu sein. Ich werde noch etwas Yoga machen, dann den Tag langsam ausklingen lassen. Ich bin nach der bergigen Einsamkeit jedenfalls wieder im Leben angelangt. Hier geht es viel emsiger zu, sogar auf dem Campingplatz. Vielleicht ist mir das auch ganz recht.
Trotzdem ist er noch ziemlich leer. Es wundert mich ein wenig. Noch also hat die Hauptsaison nicht begonnen. Wenn sie es tut, werde ich also schon weg sein.
Und das ist ganz sicher gut so.