Es wird langsam kühler.
Nicht tagsüber und auch nicht nachts, aber es ist anders. Morgens wird es später heiß und früher kühl, ohne tatsächlich kühl zu sein. Noch erreichen wir Temperaturen jenseits der 30 Grad, aber es ist eher ein langsames Aufbauen. Im Grunde ist es schön, weil viel erträglicher. Das Reisen bei solchen Temperaturen ist zu den meisten Zeiten des Tages viel angenehmer.
Was dagegen spricht: die Tageslänge. Schon zwei Monate sind seit der Sommersonnenwende vergangen. Und man merkt es. Zwar wird es schon gegen sechs hell, aber bereits um 20 Uhr ist es stockdunkel. Da es warm ist, sitze ich trotzdem meistens draußen. Es ist doch egal, ich muss ja nicht im winzigen Zelt abhängen. Doch die Zeiten, als es praktisch bis zehn Uhr abends hell war, sind lange vorbei. Von nun an geht es abwärts. Für mich ist die dunkle Zeit immer am schlimmsten, nicht wegen der Kälte, die empfinde ich als durchaus brauchbar. Doch die Dunkelheit, das fahle Licht im Winter, das nie auch nur einen Hauch an Intensität gewinnt, ist schwer zu ertragen.
Genug des Jammerns, noch ist es Sommer, wenn auch Spätsommer. In den nächsten Tagen soll es etwas gewittern, wir werden sehen, wie es kommt.

Heute fuhr ich relativ früh in Richtung Stadt, also nach Rovereto. Es ist erstaunlich, wie viel es dort zu sehen gibt. Eine winzige Stadt inmitten von Norditalien. Und doch befindet sich mit dem MART hier ein Museum, auf das jede Großstadt und/oder Metropole stolz wäre.
Es wird als Museum für moderne Kunst beschrieben, diese Bezeichnung ist ein wenig irreführend, es geht um Kunst des 20. Jahrhunderts. Die wilden Kreationen der heutigen Zeit gibt es dort nicht, zumindest habe ich sie nicht gesehen. Vielleicht ist das mit anderen Sonderausstellungen anders.
Mit elf Euro Eintritt liegt das Museum auch weit unter den vergleichbaren Museen in Italien, aber vielleicht ist es in der Toskana aufgrund der Touristemassen sowieso anders.
Der futuristische Bau wirkt ebenfalls beeindruckend. Seine Kuppel, vergleichbar mit der des Sony Centers in Berlin, bildet einen bemerkenswerten Kontrast zu den Gebäuden der Umgebung, die alle ein paar Hundert Jahre alt sind.
Ich merkte übrigens den Muskelkater vom Tag zuvor, eine Wanderung war also nicht folgenlos geblieben. Also war es richtig, sich heute etwas weniger zu bewegen.

Die Tour begann mit Gemälden aus der Zeit der Wiener Sezession. Eigentlich noch etwas früher. Eines, La leggenda di Orfeo, Rinascita d’Euridice, Morte d’Orfeo von Luigi Bonazza, beeindruckte mich sofort. Ich erkannte die Parallelen zu Klimt. Beethovenfries und Universitätsgemälde, das sah alles so ähnlich aus. Und tatsächlich hatte Bonazza in Wien gelebt, war ganz sicher mit Klimt zusammengekommen. Wer wen beeinflusst hat, mag ich nicht zu sagen.
Ansonsten wanderte ich staunend durch die Hallen. Ich muss gestehen, dass ich mich mit italienischer Kunst aus dieser Zeit der Sezession noch nie beschäftigt habe. Ich kenne Giovanni Segantini, der in diesen Ausstellungen aber nicht vorkam. Jetzt, da ich vor dem PC sitze, erfahre ich aber das, was mir oft passiert, wenn ich einen Museumsbesuch beschreiben will. Es ist alles nur ein einziger bunter Brei. Ich kann mich an das eine oder andere Gemälde erinnern. Aber nicht an Zusammenhänge. Um dieses Museum zu beschreiben, müsste ich während des Besuchs Notizen machen. Schreiben, erleben. Vielleicht sollte ich damit anfangen.

Aber um ehrlich zu sein, verwässert so etwas das Erlebnis. Denn woran ich mich erinnere, ist auch das, was mich am meisten beeindruckt.
Und das war heute ein besonderer Teil des Museums. Es geht um die sogenannten Realisten. Das waren Maler, die nach der Sezession, also der Loslösung von akademischer Malerei, trotzdem die alten Techniken der Jahrhunderte vorher gelernt und verwertet haben. Renaissancemalerei im 20. Jahrhundert. Das war damals durchaus eine Frage der Ideologie. Wurden die Sezessionisten im späten 19./frühen 20. Jahrhundert von den akademischen Malern bekämpft, war es ein paar Jahrzehnte genau andersherum. Diese „akademischen“ Maler hatten mit Widerständen zu kämpfen, galten als altmodisch und natürlich unmodern. Gegen die Avantgarde gerichtet, verfolgten sie jedoch anfangs recht unbeirrt ihre Ziele. Caravaggio, Michelangelo, Raphael gehörten zu ihren Vorbildern. Und ich muss gestehen, dass ich es faszinierend fand. Ich fragte mich, warum es überhaupt sein muss, dass Künstler sich gegen Strömungen wehren müssen. Oder warum sie entscheiden, sich dagegen zu wenden. Geht es bei Künstlern nicht darum, diese möglichst selbst zu erfinden? Den eigenen Stil?
Dementsprechend war auch ein Teil der Ausstellung diesen Künstlern gewidmet, die weniger Verlangen danach hatten, sich darzustellen. Sie wollten einfach nur malen. Keine Seelentiefen erkunden, nicht die Sexualität. Sie wollten darstellen. Auch das empfand ich als erfrischend, denn so etwas kann ich akzeptieren. So wie alles andere auch.

Ein weiterer Teil der Ausstellung widmete sich der Erotik, im Grunde eigentlich der pornografischen Malerei. Daran habe ich mich allerdings schon fast gewöhnt, denn Klimt und im Besonderen auch Egon Schiele haben in dieser Richtung experimentiert. Primäre Geschlechtsorgane habe ich also schon zur Genüge auf Gemälden gesehen. Was ich faszinierend fand, war eine Mutter mit ihrer Tochter, die vielleicht 16 Jahre alt war. Der waren diese Darstellungen eindeutig zu viel. Ich versuchte, mich selbst zurückzuversetzen. Wäre ich in diesem Alter mit meiner Mutter zu einer solchen Ausstellung gegangen? Sicherlich nicht. Daher verstand ich es nur zu gut, dass die beiden diesen Teil der Ausstellung vermieden. Wahrscheinlich aus anderen Gründen, ich hatte den Eindruck, dass es für die Tochter einfach zu viel war. Mir wäre es zu peinlich gewesen, mit meiner Mutter zusammen eine solche Ausstellung und somit auch mich selbst zu erkunden. Aber vielleicht war es bei den beiden ja ähnlich. Ich weiß auch nicht, ob diese überbordende Darstellung von Geschlechtlichkeit nicht zu viel für mich ist, was die Kunst betrifft. Aber ich kann es verstehen, dass es Künstler gibt, die in dieser Richtung experimentieren. Ich mache es schließlich selbst auch, nur eben durch das Medium der Sprache.

Das MART war ein Museum, dass ich nur zufällig gefunden hatte. Wer vermutet denn so etwas in einer solch kleinen Stadt? Ich hatte gar nicht vor, herzukommen. Wollte zum Gardasee, den ich schrecklich gefunden hätte. Solch ein Glück kann ich kaum fassen. Ich habe etwas entdeckt, das mich zutiefst berührt und das mich beschäftigt, ohne mich auch nur eine Sekunde vorzubereiten. Manchmal findet man das, was man braucht und nicht das, was man erwartet. So will ich es ausdrücken.
Ich werde Fotos von einigen Werken hier veröffentlichen. Und kann dieses Museum nur jedem empfehlen. Kunst ist etwas Wundervolles, etwas Mystisches. Man kann nie sagen, was einen erwartet. Es ist eine Erfahrung, auf die man sich jedes Mal von neuem einlassen kann. Wenn man will.
Und ich werde mich mit italienischer Kunst des 20. Jahrhunderts beschäftigen. So wie ich das teilweise mit der deutschen und österreichischen getan habe. Ohne dabei zum Experten zu werden. Aber das muss man auch nicht.

Morgen werde ich wohl etwas ausruhen. Mal sehen. Es ist mein letzter Tag in dieser Gegend, bevor ich nach Bozen fahre, von wo aus ich zwei Tage später nach Deutschland aufbreche.
Meine Reise währt nur noch wenige Tage. Es ist so komisch, sich das vorzustellen. Ich genieße gerade jeden Augenblick. So wie die ganze Zeit schon, aber jetzt fast noch intensiver. Ist es das drohende Ende? Ich hoffe nicht. Jedenfalls ist aus dieser Unmenge an Zeit plötzlich etwas Zählbares geworden. Etwas, dessen Ende ich plötzlich sehen kann. Das ist erschreckend und beruhigend zugleich. Ich werde es einfach abwarten. Und mir Zeit lassen, wieder in Berlin anzukommen.
Das nehme ich mir zumindest vor.