Ein wirklich ruhiger Tag.
Beinahe ist es schon Tradition auf dieser Reise. Letzte Woche in Corte auf Korsika habe ich nur kurz zum Einkaufen den Campingplatz verlassen, ansonsten herumgehangen. Im Vergleich dazu war ich heute hyperaktiv. Ein schräger Vergleich.
Es standen am Morgen einige Campingarbeiten an, waschen, Zelt etwas säubern, nachdenken. Nichts Weltbewegendes. Gegen halb zehn aber brach ich auf, um zum nahen Dorf Montecatini Alto zu laufen, der mittelalterliche Ort. Derjenige unten im Tal ist ja wesentlich moderner, wie ich gestern gesehen hatte. Und so war es dann auch. Als erstes passierte ich den Friedhof der Stadt. Auf dem Weg dorthin hatte ich mich übrigens über ein brutales Betonbauwerk gewundert, das mit gewaltigen grauen Bögen meine Aufmerksamkeit weckte. Aber ich dachte mir zuerst nichts dabei, ließ es liegen. Kurz darauf passierte ich das steinerne Stadttor, eine sanft ansteigende Passage führte nach oben. Also wanderte ich weiter, immer höher. Und freute mich, mal nicht Radfahren zu müssen. Ich erreichte eine Serpentine, praktisch hatte ich das Dorf erreicht. Von hier aus erbot sich ein malerischer Anblick, wie auch schon vom Campingplatz aus. Die Toskana erstreckte sich vor mir, mit den Hügeln, den Zypressen, dem grellen Licht, das das Grün der Landschaft noch betont. Trotz der Trockenheit hier wirkt es alles andere als karg.
Montecatini Alto ist wirklich nicht besonders groß. Bald schon stand ich auf dem Hauptplatz, ein von mittelalterlichen, gut renovierten Gebäuden umrahmter Platz, der voll gestellt ist mit Tischen und Stühlen der umliegenden Restaurants. Ich ließ ihn erst einmal liegen, stieg zum ersten der beiden Hügel innerhalb des Ortes auf. Das Dorf befindet sich sozusagen in der Mitte dazwischen. Hier besichtigte ich kurz eine Kirche, danach das Kastell, das nicht viel hermacht. Lange hielt ich mich nicht auf, stieg wieder ab, nur um durch das Dorf zu laufen, um an der anderen Seite mein Glück zu probieren. Innerhalb weniger Minuten stand ich vor dem Uhrenturm und einer weiteren abgesperrten Kirche. Überhaupt kommt mir dieser Ort merkwürdig vor. Durch eine Seilbahn ist er mit dem Tal verbunden, das heißt ein stetiger Strom an älteren Besuchern ergießt sich hinein. Auf der anderen Seite gibt es Ecken, die derartig verfallen sind, dass ich mich darüber wunderte.
Vom Uhrenturm aus setzte ich meinen Weg fort und erreichte einige Aussichtspunkte, um den Blick auf die andere Seite der Toskana zu genießen. Von dort aus wirkt sie flach. Eine Ebene, mit einigen Hügeln dazwischen. Und hier entdeckte ich ein Gebäude, das ich nicht erwartet hätte. Ich weiß nicht, was es ist, es sah aus wie ein 50er Jahre Plattenbau. Aber absolut verlottert. Die Scheiben waren eingeschlagen, Beton bröckelte überall. Natürlich war alles abgesperrt. Was hat so etwas hier zu suchen? Ich lief weiter in Richtung Seilbahn. Und kam nun auch an prächtigeren Gebäuden vorbei. Hotels. Zumindest waren es früher welche. Jetzt sind sie leer. Und welken vor sich hin. Ich weiß nicht, was passiert ist. Es passte nicht zum beinahe quirligen Zentrum des Dorfes einige Meter entfernt, wo sich der Hauptplatz langsam füllte. Immer mehr Besucher kamen von unten hinauf, wahrscheinlich ein Sonntagsausflug auch für die Italiener.
Für mich war es an der Zeit zu gehen. Die Mittagszeit näherte sich und es wurde langsam heiß.
Auf dem Rückweg kam ich erneut am Friedhof vorbei und entdeckte wieder dieses eigenartige Betonbauwerk. Erst jetzt war meine Neugier geweckt. Was war das denn? Durfte ich dorthin?
Ich wollte es ausprobieren.
Als ich die Treppe zwischen den Oliven gefunden hatte und näher kam, wusste ich plötzlich, worum es sich handelte.
Es war der „moderne“ Friedhof.
Meine Güte, was für ein Bauwerk.
Man muss wissen, dass in Italien Friedhöfe nicht so angelegt sind wie bei uns. Meist werden die Urnen praktisch ins Regal gestellt. Aber erst einmal ging es mir um das Bauwerk selber. Ich habe noch nie einen solchen Friedhof gesehen. Das Bauwerk könnte aus den 50ern sein. Es ist komplett aus Beton, wies skurrile Strukturen auf, Bögen und Korridore, auf mehreren Ebenen. Und alles bröckelt irgendwie. Die Gräber befinden sich größtenteils hinter Metallplatten. Und immer, absolut immer, befinden sich Bilder der Verstorbenen darauf. Das macht eine solche Erfahrung sehr persönlich, wie ich finde.
Ich muss wirklich einmal lesen, was es mit diesem Friedhof auf sich hat. Der Komplex ist in sich abgeschlossen, darüber thront ein Kruzifix, ebenfalls aus Beton. Es ist ein Kunstwerk auf seine eigene Art.
Nachdem ich meinen ersten freudigen und morbiden Schock überwunden hatte, wanderte ich durch die Gräberreihen. Manchmal erzählen Friedhöfe eigene Geschichten, zumindest, wenn man Fantasie hat. Hier war es nicht unbedingt so, vielleicht, weil der Ort mich so beschäftigte. Mich ergreifen aber immer Schicksale, die ich als schlimm empfinde. Eine 28-jährige, die viel zu früh verstorben ist. Eine 4-jährige, die 2018 ging. Das ist erschreckend und unvorstellbar. Und die Bilder dazu. Ich blickte in die Gesichter von Menschen, die schon vor 50 oder 60 Jahren gestorben sind. Im Grunde fast so wie meine Großeltern, zumindest einige. Es kann also sein, dass es noch Menschen gibt, die sich an sie erinnern, ich meine hier auf dem Friedhof. Irgendwann aber wird das nicht mehr der Fall sein. Die Zeit legt ihren Nebel über diese Erscheinungen, deren Spuren auf dieser Erde langsam erlöschen. Auch hier konnte ich das spüren. Ich sah zwar die Fotos, aber ich weiß nichts über diese Leute. Waren sie gute oder schlechte Menschen? Gierig oder voller Güte? Keine Ahnung. Es ist ein ausgesprochen zweidimensionales Bild, das man auf solchen Friedhöfen bekommt.
Das Bauwerk aber war großartig. Mindestens fünf Ebenen fand ich. Da es an einem Hang steht, ist das vielleicht auch kein Wunder. Aber es ist so mysteriös. So verschroben. So brutal. Und ich merkte, dass Beton alles andere als ewig währt. Denn dieser Friedhof ist baufällig, auch wenn er noch benutzt wird. Ich hatte eine halbe Stunde, dann kamen tatsächlich Leute, die ihn besuchten.
Draußen entdeckte ich noch eine moderne Jesusstatue, natürlich am Kreuz. Ein modernes verzerrtes Bild, von dem ich annehme, dass es ebenfalls aus Beton ist. Ich muss gestehen, dass ich fast mehr Spaß hatte, diesen Friedhof zu erkunden als beim Schlendern durch das Dorf vorhin.
So, und im Grunde war es das an diesem Tag. Ich legte mich an den Pool, ging schwimmen, nutzte also mal die Einrichtungen dieses sündhaft teuren Campingplatzes aus. Er kostet fast 30 Euro die Nacht. Unfassbar.
Aber ich kann es mir leisten. Weil ich billiger reise, als ich dachte. Nun, mal sehen, ob das während der Hauptsaison auch so bleibt.
Eines habe ich mir allerdings vorgenommen: Ich muss irgendwann mal eine Woche irgendwo bleiben, um etwas Luft holen zu können. Ich freue mich zwar über die relative Geschwindigkeit dieser Reise, aber ich muss auch über einige Dinge nachdenken. Und das Reisen ist eine große Ablenkung. Was einerseits gut ist, andererseits auch Dinge verschiebt und eventuell auch verschlimmert.
Na ja, wir werden sehen.
Morgen geht es weiter. Da ich kein Internet habe, weiß ich noch nicht, wie ich von hier wegkomme. Es wird schon gehen. Mein nächstes Ziel heißt Bologna. Mal sehen, ob der Campingplatz, den ich mir ausgesucht habe, tatsächlich existiert. Ich denke aber schon.
Es ist auch mal erholsam, kein Internet zu haben. Ich stelle fest, dass das Leben ohne ruhiger ist.
Aber das war eigentlich klar. Nur ist es jetzt eben erzwungenermaßen so.