Der letzte Tag in Paris.
Also eines habe ich auf dieser Reise jetzt schon gelernt: Vom langsamen Ankommen und einem gemächlichen Beginn habe ich einmal wieder Abstand genommen. Stattdessen bin ich hineingesprungen in diese Reise, habe mit einem Höhepunkt begonnen. Ich finde es dabei kaum wichtig, dass der Besuch einer Metropole eigentlich kaum zu toppen ist. Was mich eher besorgt, ist die Tatsache, dass es einfach fürchterlich anstrengend ist. Ich habe es heute Morgen nur mit viel Mühe aus dem Bett geschafft. Erst gegen halb acht war ich so weit aufzustehen. Das gestrige Radeln, die vielen Eindrücke, die Stadt und ihre Menschen und Geräusche, haben Spuren hinterlassen. Wäre ich länger hier, hätte ich einen Tag Pause gemacht und ihn in einem Café verbracht. Aber das ging nicht.
Also zog ich meine Morgenroutine durch, etwas Yoga, karges Frühstück, das Buchen des Bahntickets für morgen, dann brach ich auf.
Ich kenne die Gegend, in der ich wohne, inzwischen ziemlich gut. Auch den Weg in die Innenstadt, der mich wie auch gestern schon am Gare de Lyon und d’Austerlitz vorbeiführte. Es ist schon merkwürdig, wie schnell eine Art Routine entsteht. Noch am Tag zuvor hatte ich alles eingesogen, versucht, mir bestimmte Landmarks zu merken. Heute fuhr ich an ihnen vorbei, erkannte sie, wusste, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand und beachtete sie nicht weiter. Schon komisch, wie Notre Dame von einem Höhepunkt zu einem reinen Orientierungspunkt degradiert wurde. Aber so ist es.

Ich habe mich gestern gefragt, ob ich diesen Besuch richtig angehe. Im Grunde habe ich zwei Tage damit verbracht, zu bestimmten Attraktionen zu fahren, sie von außen anzusehen. Ich habe im Grunde bis zu diesem Zeitpunkt nichts anderes gemacht. Ist das richtig so? Die Stadt als Open-Air-Museum? Also ich kenne es auf Reisen allgemein fast nur so. Manchmal besuche ich touristische Einrichtungen, aber oft reicht mir die Stadt selbst.
Heute aber wollte ich tatsächlich etwas anderes. Das Wetter spielte auch mit, denn es war zugezogen und kühl. Der perfekte Tag also für ein Museum.
Ich hatte mir das Musée d’Orsay ausgesucht.
Genau vor 22 Jahren, auf meinem Weg nach England, mit einer Woche Zwischenstation in Paris, habe ich es das letzte (und erste) Mal besucht. Zwar war ich schon 30, aber noch vollkommen grün hinter den Ohren. Mit abgeschlossenem Studium, keiner Ahnung, was ich im Leben machen sollte (manche Dinge ändern sich nie) und einer mehr als unsicheren Zukunft. Irgendwie hat mir das damals aber nichts ausgemacht. Ich habe das Leben auf mich zukommen lassen. Vielleicht genau das Problem meines Lebens. Oder meine größte Errungenschaft.
Damals war ich besessen von Bildung und Kunst, sog alles in mich auf, als wenn es kein Morgen geben würde. Ich muss zu meinem Leidwesen gestehen, dass diese Flamme jetzt, im mittleren Alter, im Spätsommer/Frühherbst des Lebens nicht mehr so leidenschaftlich brennt. Keine Ahnung, wo ich es langsam verloren habe. Oder ob ich es überhaupt verloren und nur versachlicht habe. Schwer zu sagen.

An diesem Tag aber wollte ich einmal wieder dort ansetzen.
Ich parkte mein Rad vor dem Museum, immer mit ein wenig Sorge, ob es nachher noch da sein würde. Kein Wunder nach der Erfahrung in Bordeaux 2018, wo mir nach einem Tag ein nagelneues Rad geklaut wurde. Aber dieses Mal hatte ich ein wesentlich besseres Schloss dabei. Zugegeben, für ein wesentlich besseres Rad.
Die Sicherheitsmaßnahmen im Museum glichen denen im Flughafen. Alles wurde durchleuchtet. Ich glaube aber, dass es nicht ganz so streng war.
Dann hatte ich es endlich in den Innenraum geschafft.

Das Museum befindet sich in einem alten Bahnhof, der 1900 erbaut wurde. Seine aus Gusseisen und Glas bestehende Decke befindet sich 30/40 Meter hoch in den Lüften, das Licht strahlt von allen Seiten ins Gebäude und auf die Kunstwerke. Es ist luftig und der Ort an sich schon bemerkenswert.
Ich habe Schwierigkeiten, meinen Besuch zu schildern.
Im Grunde verbringe ich Zeit damit, Kunstwerke auf mich wirken zu lassen. Neues zu suchen, altes wiederzufinden. Kunst sind wunde Emotionen, die ungestüm auf einen einprasseln. Mit der Zeit versachlicht man sie, dabei geht aber der lodernde Augenblick verloren, dem man sich hingibt. Ich sah tatsächlich überall Anknüpfungspunkte zu anderen Künstlern, mit denen ich mich zu Zeiten beschäftigt habe. Im Grunde widmet sich das Museum der französischen Sezession, ohne es allerdings maßgeblich herauszustellen. Im gesamten unteren Bereich befinden sich Skulpturen, die sich erst einmal fast ausschließlich dem klassischen Vorbild zuwenden. Es sind wundervolle Statuen von halbnackten, sich windenden Frauen, leidende Helden, heroische Gesten. Wahrscheinlich also eher Werke aus dem 19. Jahrhundert, die sich an antiken Vorbildern orientieren. Erst allmählich wandten sich Künstler davon ab. Und tauchten ein in die Moderne. Allen voran natürlich Rodin. Und hier ist auch schon der erste Anknüpfungspunkt, denn Rodin war mit Gustav Klimt und anderen Künstlern der Wiener Sezession befreundet. So weit ich mich entsinnen kann, hat Klimt Rodin bewundert. An Rodin kam aber kein Bildhauer aus Frankreich vorbei. Besonders die, die nach ihm kamen, haben seine Ideen weiterentwickelt.
Es fällt mir gerade schwer, mich an einzelne Werke zu entsinnen. Ich habe deshalb Hunderte von Fotos gemacht, die ich nachträglich auswerten werde. So ist das mit einem Museumsbesuch. Meine Frage lautet: Wie viele Kunstwerke kann man sich tatsächlich nachhaltig ansehen? Vielleicht ein oder zwei Dutzend? Das wäre schon viel.
Ich habe heute Hunderte, wenn nicht gar Tausende gesehen. Und so verschwimmt gerade alles in meinem Kopf.
Was mich aber nachhaltig beeindruckt hat, war eine kleine Sonderausstellung über einen Maler und Bildhauer Aristide Maillol. Ein Künstler, dessen Skulpturen irgendwie bekannt sind, von dem ich aber noch nie gehört hatte. Er hat ausladende Frauenskulpturen erschaffen, vielleicht im Art Noveau-Stil, den er ganz sicher mitgeprägt hat. Interessant war, dass er sehr gut mit deutschen Künstlern befreundet gewesen ist. Das hat ihm gegen Ende seines Lebens Ärger eingebracht, denn er konnte sie im Zweiten Weltkrieg nicht als Feinde ansehen. Im besetzten Frankreich hat ihm das keine Sympathien eingebracht. Er hätte vielleicht nicht eine Einladung nach Paris von Deutschland ausgehend annehmen sollen. Aber manchmal fehlt Künstlern das Gespür für die Realität. Das war damals so, und so ist es heute immer.

Zu diesem Zeitpunkt näherte ich mich bereits der bedenklichen Zeit von zwei Stunden. Mehr halte ich meistens in einem Museum nicht aus, weil ich dann vollkommen überfrachtet bin mit Eindrücken. Aber ich hatte die Impressionisten noch nicht gesehen. Diese befinden sich ganz oben. In der 5. Etage. Ich weiß nicht, aber ich schlich nur durch diese Räume hindurch. Auf mich stürzten Werke von Manet, Monet, Renoir, Degas, Cézanne, van Gogh ein. Und noch viele mehr, deren Namen ich schon vergessen habe. Wer kann das alles wirklich aufnehmen? Im Grunde bräuchte man Tage für dieses Museum. Und das ist auch die Idee. Aber ich hatte die Motivation, einfach mal fast alles anzusehen. Am Ende machte ich nur noch Fotos, ohne mich der Schönheit der Werke zu stellen. Es war aber auch so voll, dass es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren.
Dabei las ich aber wenigstens die Infotafeln. Dabei erfuhr ich, dass die Impressionisten in ihrer Zeit Schwierigkeiten hatten, ausgestellt zu werden. Sie waren eben keine akademischen Maler. Und wieder gab es diese Verbindung zur Sezession. Tradition gegen Moderne, ein Kampf, der mit aller Härte geführt wurde. Heute nicht mehr so sehr, zumindest künstlerisch. Politisch dafür allerdings umso mehr.
Am Ende sah ich mir noch van Goghs Werke an, dann hatte ich nach drei Stunden tatsächlich genug. Ich werde zu Hause die Fotos sichten und entsprechend beschriften, um einen Eindruck der Werke zu geben. Während des Besuchs kamen mir eine Reihe von Ideen und Gedanken, die ich leider nicht habe behalten können. Eines ist mir allerdings wieder eingefallen. Es geht um Manet. Er hat ein Gemälde gemalt, auf dem vier Menschen picknicken. Zwei Männer und zwei Frauen. Während die Männer zünftig in ihren Sonntagsanzügen dasitzen, sind die Frauen fast nackt. Eine vollkommen, die andere so gut wie. Wie kommt man dazu, so etwas zu malen? Warum sind diese Frauen bei einem Picknick im Grünen nackt? Vielleicht war es ein Foursome, aber dann wären doch auch die Männer nackt gewesen?
Ich fand diese Darstellung eigenartig.

Und mit diesen Gedanken verließ ich dieses großartige Museum. Ich brauchte einen Kaffee. Zwar gibt es im Museum eines, aber das war so voll, dass ich es nicht besuchen wollte.
Erst setzte ich mich in die Tuilerien, um auf einer Parkbank zu lunchen, dann fuhr ich zu einem Pret à Manger auf einen Kaffee. Im Grunde endet damit mein Besuch in Paris. Ich fahre morgen weiter ins Valée de la Loire und werde zusehen, dass ich erst einmal richtig ankomme. Es wird erst einmal eine Spur ruhiger werden. Was nicht heißt, dass ich weniger aktiv sein werde. Aber der Stress der Metropole ist erst einmal Geschichte. Jetzt widme ich mich den Schlössern der Loire.