So früh wie gestern war ich noch nie im Bett.
Ich bereitete abends nur eine leichte Mahlzeit zu, trank die obligatorische halbe Flasche Wein, ein Rosé, den ich gekauft hatte, weil Nina so etwas mag. Die aber gar nicht hier war. Ich finde Rosé zu dezent, ähnlich wie Weißwein.
Egal, jedenfalls legte ich mich nach dem Essen auf das Bett. Ein großer Fehler. Denn kurz nach neun wachte ich auf und stellte fest, dass ich mich kaum noch bewegen wollte. Ich zwang mich noch ein paar Minuten, irgendeine Prime-Serie anzusehen, dann aber fügte ich mich meinem Körper und entschlummerte.
Komatös.
Erst gegen sieben erwachte ich heute Morgen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es schon so spät war. Ich brauche morgens immer etwas Zeit, wollte aber viel unternehmen. Immerhin beruhigte ich mich, denn der Tag war ja noch lang. Mein Pensum an Sightseeing liegt im Grunde nur bei vier bis allerhöchstens acht Stunden. Mehr schaffe ich sowieso nicht. Die Eindrücke sind meistens so gewaltig, die Strecken zu Fuß so lang, dass ich irgendwann mental und auch körperlich abschalten muss. Daher wusste ich, dass ich einen erfolgreichen Tag ohne Hetze vor mir hatte.

Gegen kurz nach neun verließ ich die Wohnung in Montreuil. Mein Weg führte mich als Erstes zum Gare Austerlitz, nicht, weil ich ihn besichtigen wollte, sondern weil mein Zug übermorgen hier abfährt. Der Bahnhof liegt von hier aus sowieso auf dem Weg ins Zentrum, also radelte ich erst einmal dorthin. Mein Navi, das ich zwar nicht sehe, aber über einen Knopf im Ohr gut hören kann, wies mir den Weg. Ich fand die Strecke problemlos, brauche etwas über eine halbe Stunde. Genug Zeit also am Freitag, der Zug, den ich nehmen will, fährt schon um halb acht. Das ist alles nicht schlimm. Ich will auch nicht zu lange davon reden, denn ich bin noch nicht so weit, mich mit der Weiterreise zu befassen. Ich bin noch in Paris und die Hauptstadt verlangt meine ganze Aufmerksamkeit.

Vom Gare Austerlitz fuhr ich am Ufer der Seine entlang. Quasi vom Wasser aus sieht jede Stadt vollkommen anders aus. Der Blick reichte weit, bis zur Île de Paris und Notre Dame auf der einen Seite, auf der anderen kenne ich die Gebäude nicht. Ab und zu hielt ich an, um ein paar Fotos zu schießen. Leider habe ich mich gegen die GoPro entschieden. Sie wäre tatsächlich mit dem Rad besser gewesen. Aber ich bin kein Filmemacher. Dazu wäre auch die Ausrüstung, die ich tragen müsste, zu aufwendig. Egal, also mache ich es wie immer. Mit Digicam und Smartphone, auf dem ich jetzt schreibe.
Als ich den Weg vom Seineufer wieder nach oben kam, entdeckte ich einen alten Bekannten.
Der Buchladen Shakespeare and Co lag dort, gegenüber von Notre Dame. Ihn hatte ich fast vergessen. Und wie berühmt er geworden ist. Eine Reisegruppe samt Führer stand davor. Ich habe diesen Laden vor ziemlich genau 25 Jahren entdeckt, als Student. Damals war er noch nicht die Attraktion, eher ein Geheimtipp für Büchernarren. So einer war ich damals auch. Hinein ging ich dieses Mal nicht. Irgendwie hat sich meine Faszination für gebracuhte Bücher verabschiedet. Dabei „konsumiere“ ich derzeit Bücher mehr denn je, allerdings eher im Audioformat. Das kann ich inzwischen fast genauso gut wie das Lesen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass mein Gehör dadurch besser geworden ist.
Ich schweife ab.

Ich riss mich also vom Quatier Latin los, das ich nur ein wenig gestreift hatte. Hier sind zu viele Schriftsteller früher verhungert. Das wäre ein Schicksal, das mir auch geblüht hätte. Aber die Zeiten sind andere. Der Ort ist auch zunehmend touristisch. War er natürlich in den 90ern auch schon. Heute aber stört es mich ein wenig mehr. Verwunderlich, dass ich trotzdem diese Orte aufsuche.
Manchmal radelte ich jetzt, manchmal schob ich einfach. Über die Pont Neuf erreichte ich das Kaufhaus Samaritain. Und Louis Vouilton. Die Kaufhäuser haben m.E. einen Art-Deco-Look. Jedenfalls sind sie prächtig. Besonders aber Louis wollte ich nicht betreten. Nicht meine Welt. Nicht meine Preise. Was mir auffällt, ist die Tatsache, dass mich Clouchards hier immer besonders freundlich grüßen. Ich hoffe nicht, dass sie in mir einen Weggenossen sehen. Es wäre nicht das erste Mal.
Bei Les Halles machte ich eine kurze Pause. Ich kann mich an das Einkaufszentrum, das hier entstanden ist, nicht erinnern. Nicht, dass ich da etwas verloren hätte. Im Moment will ich nicht shoppen. Aber ich bewegte mich weiter in Richtung Centre Pompidou. Ich bin noch nie drinnen gewesen. Dieses Mal werde ich es auch nicht schaffen, dabei gibt es eine interessante Ausstellung. Allemand 1920. Ich erkannte das Gemälde, das auf dem Poster abgebildet war. Anita Berger von Otto Dix. Den imaginären, abgezehrten Körper der drogenabhängigen Schauspielerin werde ich nie vergessen. Dabei hat sie nie so ausgesehen, ist sie doch schon in ihren frühen 20ern an einer Überdosis gestorben. Otto Dix hat also gesehen, was mit ihr passiert wäre. Ich finde und fand das immer ungemein faszinierend, wie den Maler insgesamt.

Langsam bewegte ich mich weiter, erreichte die Prachtboulevards, also die Schneisen, die Haussmann damals in die Stadt gezogen hat und dabei Tausende von Wohnungen abreißen musste. Das sollte man nicht vergessen, die Pracht von Paris ist oft teuer erkauft. Auch nach der Monarchie.
Meistens schob ich das Rad. Nach einem Blick auf mein Navi stellte ich fest, dass ich nicht mehr weit entfernt von Montmarte und Sacre Coeur war. Also schob ich das Rad nun den Hügel hinauf. Ich merkte, dass mir der Tag bereits jetzt in den Beinen steckte. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich schon gelaufen und gefahren war. Trotzdem ließ ich nicht locker.
Am Place des Abessess stellte ich aber das Rad ab, erinnerte ich mich doch an viele Treppen. Und die kamen auch. Ich weiß nicht, warum sie mir heute so schwerfielen. Wir wohnen in einem Altbau im vierten Stock. Treppen machen mir nichts aus. Außer heute.
Die Menge der Touristen schwoll an. Der Place du Tertre glich einer Touristenfalle, bestehend aus Porträtkünstlern, die nach möglichen Objekten Ausschau hielten, und einer Gastronomie für diese Art von Gästen. Überteuerte Getränke und billige Gerichte. Allerdings zu teuren Preisen. Aber so ist das wahrscheinlich überall. Sacre Coeur war nicht weit. Die Aussicht von hier oben auf die Stadt war wundervoll. Im Dunst erkannte ich im Grunde die ganze Altstadt, vor mir breitete sich Paris aus, schien zu zerfließen. Es war auch so still, wenn man von den Touristen absieht. Aber das war nicht schlimm. Eigenartig fand ich den Brauch von Liebenden, ein Vorhängeschloss mit ihren Namen an die Zäune hier zu ketten. Ich kenne das aus Prag. Aber mal ehrlich, wer kommt denn auf die Idee, seine Liebe derartig zu verschließen? Ich meine, Symbolik hin oder her, das ist doch das Schlimmste, was man machen kann. Man sperrt sich und seine Liebe auf ewig hier fest. Das ist die Symbolik, die sich mir darstellt.

Die Kirche besichtigte ich nicht, ich brauchte einen Kaffee. Also fuhr ich ein Stück zurück und setzte mich in ein Etablissement, das ich auf der Hinfahrt für ein Café gehalten hatte. Es war aber keines, sondern ein Restaurant. Und zwar ein ziemlich gutes. Der Kellner behandelte mich jedenfalls angenehm schlecht. Ich war also zu Hause.
Der Kaffee war auch selten schlecht, dafür aber sehr teuer. Der Ort, wo ich saß, hingegen einmalig. Es war inmitten der hektischen Stadt ein ruhiges Plätzchen, die Sonne kam heraus, fast war es heiß. Alles in allem also wirklich lohnend, im Café Père Tanguy am Place Gustave Toudouze. Und der Kaffee gab mir die Rest-Energie, noch quer durch die Stadt zum Friedhof Père Lachaise zu radeln.

Dieser Friedhof ist tatsächlich einzigartig. Seine jahrhundertealten Grabanlagen, die oft kleinen Häusern gleichen, die verwinkelten Gassen, die umgestürzten Grabsteine – ich fühlte mich wie in einem Vampir-Roman. Mein Weg aber führte mich ziemlich direkt zum Grab von Jim Morrison. So wie bei fast jedem, der diesen Friedhof besucht. Hier also liegt der Rockstar, der in Paris starb, kurz nachdem ich geboren wurde. Ich weiß nicht, warum er solch eine Faszination ausübt. Auch wenn er ein herausragender Dichter gewesen ist, so wird dieses Brimborium auch um bessere Dichter nicht gemacht. Ein bisschen kann ich es aber verstehen. Ein Rockstar ist ein bisschen größer als alles andere. Noch dazu, wenn das Gerücht besteht, dass er gar nicht gestorben ist. Aber das glaube ich nicht.
Kurz vor dem Grab steht übrigens ein anderes. Aus Gusseisen. Es rostet stark, ist bereits in einem Zustand des Verfalls. So etwas finde ich interessant. Das Grab präsentiert sich wie unser Leben und unser Vergehen. Es ist ehrlich. Und bleibt nicht für immer. Seien wir doch einmal ehrlich, wenn wir fort sind, wer interessiert sich denn dann noch für uns? Ich meine, wir sind tot. Vollkommen uninteressant. Da kann auch ein Grab vergehen. So wie die Erinnerung an Menschen.
Ich habe noch einige andere Gräber gesehen, die ich interessant fand. Eines war im Jugendstil kreiert, mit Bronzetüren und interessanten Plastiken. Ich fand den Familiennamen, aber nichts weiter. Zu Hause werde ich mal sehen, wer das Grab beauftragt hat.
Nun aber war ich vollkommen am Ende.
Ich radelte nach Hause, kam gegen 17 Uhr im Appartment an. Mehr schaffe ich einfach nicht. Andere Menschen könnten wahrscheinlich weitermachen, ich aber nicht. Mein Akku war für heute verbraucht. Ich schreibe noch ein wenig, so wie jetzt. Das mache ich auf dieser Reise immer abends. Es scheint mir sinnvoll. Vor allem ist der Tag dann wirklich erfüllt. Früher habe ich oft schon am frühen Nachmittag geschrieben. Dann musste ich immer am nächsten Tag etwas nachholen. So aber ist es gut. Ich bin damit zufrieden.

Morgen werde ich noch ein Museum ansehen. Musée d’Orsay. Mal sehen, ob ich problemlos hineinkomme.