Wie beschreibt an einen solchen Tag?
Es fällt mir nicht ganz leicht, das muss ich zugeben.
Ich habe heute die Gedenkstätte Oradour besucht. Deswegen bin ich hier ,eine der wenigen „Attraktionen“, die ich schon vor der Reise herausgesucht hatte. Ich kann nicht sagen, dass es ein Vergnügen war. Und trotzdem war es notwendig.
Kurz gesagt: Am 10. Juni 1944 haben 200 SS-Soldaten das Dorf angegriffen, ein Dorf, dass millitärisch keinen Nutzen hatte, dass bereits besetzt und erobert war. Fast alle Einwohner, Männer, Frauen, Kinder, wurden an diesem Tag abgeschlachtet. Und das auf grausamste Art und Weise. Das Dorf haben sie dabei zerstört, die verkohlten Überreste und Ruinen bilden heute die Gedenkstätte für das Massaker. Stumm habe ich dort meinen Besuch begonnen. Bevor man das Geisterdorf betritt, muss man durch das Begrüßungszentrum. An einer Wand befinden sich die Namen und Fotos (ca. 70 %) der Getöteten. Von Beginn an also wird es persönlich. Ich blickte in die Augen von ganz normalen Menschen. Babys waren darunter, alte Leute, Jugendliche. Auch Männer im besten Alter. Und Kinder. Schon diese beiden Wände spiegelten die Bestialität dieser Tat wider.
Es ist im Grunde nicht zu begreifen. Ich bin hergefahren, um eine Antwort zu finden. Aus Gründen, die aktueller sind, denn je.
Warum?
Diese Frage schreit einem von überall entgegen.
Auf diese Frage habe ich allerdings wie erwartet keine Antwort gefunden.
Die Deutschen hatten den Krieg 1944 schon verloren. Kann sein, dass sie es noch nicht wahrhaben wollten. Aber selbst wenn sie Chancen auf den Sieg gehabt hätten, warum vernichtet man ein Dorf? Es gibt keinen strategischen Grund. Dort gab es keine wehrhaften Männer. Warum?
Babys?
Frauen?
Alte Menschen?
Man muss sich auch mal vorstellen, dass viele von diesen Franzosen bestialisch verbrannt wurden. Überall gibt es Hinweisschilder, dass Leute in Häuser gesperrt wurden, die danach in Brand gesetzt wurden. Das Gleiche geschah in der Kirche. Ein Ort, an dem vor allem Mütter mit ihren Kindern Schutz gesucht hatten. Die Deutschen haben die Kirche verriegelt, dann in Brand gesetzt.
Warum?
Es machte und macht mich unfassbar wütend. Und ich stellte mir mehr als einmal die Frage, warum man nach dem Krieg die Deutschen hat weiter existieren lassen. Ich hätte das nicht getan. Ich gebe zu, dass ich jedes Parteimitglied am nächsten Laternenpfahl aufgehängt hätte. Einen Schauspieler Heinz Rühmann, der Propagandafilme gedreht hat (auch die Feuerzangenbowle ist einer davon) hätte es mit mir nicht gegeben. Der Staat hätte aufgehört zu existieren.
Ich stehe sicherlich noch unter dem Einfluss des Gesehenen und der Ereignisse in der Ukraine, die dem, was hier geschehen ist, gleichen.

Als ich durch die Straßen der Geisterstadt wanderte, versuchte ich mir vorzustellen, wie das Leben hier ausgesehen haben mochte. Es fällt nicht schwer, Oradour gleicht den kleinen Orten in dieser Gegend. Cafés, Betriebe, Wohnhäuser – alles scheint normal. Und ist es natürlich nicht. An den Ruinen steht oft, wer darin gewohnt hat und was er dort gearbeitet hat. Coiffeur und Bar. Und Wäscherei. Doktor. Mechaniker.
Ab und zu sieht man verrostete Autos. Und auch Waffen. Es wirkt friedlich. Vögel singen, die Sonne kam heraus. Aber die Beklemmung verschwand nicht.
In der Kirche, wo das grausame Massaker stattgefunden hat, sah ich ein Rotkelchen, dass in einem Gewölbe im Rosenstein ein Nest gebaut hat. Unweit der vollkommen zerschmolzenen Glocke. Widersprüche klären sich nicht auf. Und sollen es vielleicht auch nicht.
Es war ein nachdenklicher Tag, ein schockierender. Und er wies mich darauf hin, dass nichts im Leben sicher ist. Diese Wahrheit erkennen wir nun leider langsam, wir, die 80 Jahre in der Illusion gelebt haben, Kriege in Europa überwunden zu haben.

Auf dem Friedhof der Stadt befinden sich die Gebeine der Gefallenen. Ich erwies ihnen die letzte Ehre, auch wenn ich nicht weiß, ob diesen Menschen damit geholfen ist. Ich bin Atheist und glaube, dass das Leben mit dem Tod endet. Ein für allemal.
Nicht weit entfernt befindet sich noch eine Gedenkstätte, angefüllt mit Sachen, die in der Stadt gefunden wurden. Spielsachen. Geld. Tassen. Geschmolzene Glasflaschen.
Und Uhren, die alle ungefähr zur gleichen Zeit stehengeblieben sind. Unvorstellbar. Und doch so real.
Auf meinem Weg nach draußen sah ich mir die Gesichter der Menschen auf den Fotos nochmal genauer an. Es war noch schmerzhafter als zu Beginn des Besuchs. Aufgewühlt verließ ich den Ort. Und werde dieses Erlebnis sicher nicht vergessen.

Nach meinem Besuch ging ich noch ins neue Dorf. Er wirkt friedlich. In einer Bar trank ich einen Kaffee. Alles war normal. So wie ein paar Schritte weiter vor dem Juni 44.
Viel bleibt über diesen Tag nicht zu sagen.
Ich besuchte danach eher lustlos St. Junien, wo ich untergekommen bin. Eine halbe Stunde. Aber rechte Begeisterung wollte nicht aufkommen. Aber das ist ja auch klar. Und so beschließe ich diesen Tag, der auf seine Weise sicher ein Höhepunkt dieser gesamten Reise sein wird. Es gibt solche Tage. An manches erinnere ich mich auch nach 30 Jahren noch. Und so wird es hier auch sein, so ich nicht dement werde.