Der letzte Tag auf der Île de Ré.
Es war eine warme Nacht. Und ein kühler, windiger Tag heute früh. Einige klimatische Gegensätze erlebt man sicher oft am Meer. Ab Morgen aber geht es wieder ins Landesinnere, sodass es vielleicht etwas berechenbarer wird. Wahrscheinlich ja nicht.
Ich hatte mir vorgenommen, es heute etwas ruhiger angehen zu lassen, was mir nicht wirklich gelungen ist. Ich weiß nicht, warum mir das Radfahren plötzlich so schwerfällt. Natürlich war es windig, und ich hatte nie das Gefühl, wirklich kraftvoll voranzukommen. Und das, obwohl ich es heute bei ca. 15 – 20 Kilometern belassen habe. Keine Ahnung. Travel Fatigue? Am Yoga kann es schlecht liegen, ich mache im Moment eher Stretching.
An diesem Tag wollte ich in die Hauptstadt der Insel fahren. Saint-Martin-en-Ré liegt nur ungefähr sieben Kilometer entfernt. Ich stellte es mir nicht unbedingt als Highlight vor, sondern eher als ein Ort, den man hier durchaus mal gesehen haben kann. So war es letztlich nicht. Der Rough Guide von Anno Dazumal gab nicht viel her, also zog ich unverrichteter Dinge und unbelastet von hilfreichen Informationen los.
Vorher aber, am Morgen, machte ich mir Gedanken, wie ich meine Reise fortsetzen kann. Denn um ehrlich zu sein habe ich nur noch 16 Tage, bis ich in Lyon sein muss. Und es liegt noch eine Menge Frankreich zwischen mir und Lyon. Das ist unbestreitbar. Für einen Augenblick ließ ich mich verlocken, diese Zeit irgendwo an der Atlantikküste zu verbringen, um erst im letzten Augenblick mit dem Bus nach Lyon zu fahren. Aber diesen Gedanken unterhielt ich nicht sehr lange in meinem Kopf. Ich bin nicht hier, um Urlaub zu machen, sondern um zu reisen. Und es gibt im Landesinneren so viel mehr zu sehen.
Einen Augenblick lang glaubte ich, mich entschieden zu haben. Angoulême, Limoge, Clermont. Dann aber fiel mir eine weitere Strecke auf. Über Cahors, Albi usw in den Süden. Dann müsste ich aber wieder zurück nach Lyon. Ich meine, das ginge schon. Ich muss mal überlegen. Zumal die Strecke Angoulême – Limoge schwer mit dem Zug zu befahren ist. Teuer und lang, mit Umstieg. Aber nur ca. 70 Kilometer mit dem Rad. Traue ich mir das zu? Heute sicherlich nicht. Aber in ein paar Tagen ohne viel Radfahren? Vielleicht. Ich weiß es tatsächlich noch nicht. Irgendwie fühle ich mich bereits wieder ein bisschen gehetzt. Zwei Termine innerhalb eines Monats, an gegenüberliegenden Seiten Frankreichs, das ist nicht gerade günstig. Nun, ich glaube nicht, dass ich so eine Reise nochmal machen werde, also ist es wahrscheinlich egal. Spannend werden die nächsten Tage auf jeden Fall.

Heute aber fuhr ich am Meer entlang. Schnell war ich von La Couarde aus auf dem Radweg nach St. Martin, der mich tatsächlich an der Küste entlangführte. Heerscharen an Radfahrern waren schon jetzt unterwegs. Das leise Surren der Elektromotoren höre ich immer schon, bevor ich sehen kann, dass es sich um Pedelecs handelt. Das ging so schnell, die meisten Fahrräder hier und in Frankreich sind mit Motoren ausgestattet. Schön und unheimlich zugleich. Ich will auch nicht wissen, was hier in der Hauptsaison los ist. Es herrschte jedenfalls manchmal Gedränge. Stau. Na ja, so schlimm war es nicht.
St. Martin erreichte ich nach vielleicht einer halben Stunde. Der Wind war unangenehm und tatsächlich raubt er mir die Kraft auf dem Rad. Es ist fast egal, aus welcher Richtung er kommt, ob von der Seite oder vorne. Ich habe immer das Gefühl, fürchterlich strampeln zu müssen, um sehr langsam voranzukommen.

St. Martin entpuppte sich als echtes Zentrum der Insel. Es ist wirklich die Hauptstadt, größer, etwas prächtiger, lebhafter. Dabei scheint es mir beinahe „grand“, ehrwürdig, vor allem in den Gassen außerhalb des Zentrums. Die Häuser sind etwas höher, vielleicht auch ein bisschen rauer, dafür aber auch eine Spur prächtiger. Überall haben die Leute sie bewachsen lassen, mit Yasmin, Blauregen oder anderen Rankepflanzen. Aber nicht nur, fast überall befinden sich Blumen und Sträucher, die die Gassen schmücken. Das ist auch in La Couarde so, aber nicht so ausschweifend.
Ich war überrascht, als ich den Hafen erreichte. Tatsächlich tummelte sich hier das Leben. Luxusgeschäfte und -Restaurants wechseln sich ab. Diese Insel ist sicher ziemlich reich. Und hier kann man es mehr als woanders auch sehen. Die Häfen sind voller kleiner Jachten, die Restaurants mit wohlhabend wirkenden Menschen bestückt. Ich ertappte mich dabei zu überlegen, wie es wäre, wenn ich auch so wäre. So reich, dass es mir egal wäre, wie viel ich in Restaurants ausgeben kann. Verpasse ich etwas? Vielleicht. Aber der Gedanke, so zu sein, scheint mir vollkommen fremd. Es gibt Dinge, die mir nicht so wichtig sind. Und wahrscheinlich auch nie sein werden. Anderes ist mir wichtiger. Und das genieße ich in vollen Zügen. Jeder so, wie er es braucht. Aber es roch schon verführerisch aus diesen Restaurants. Sicher gönnen Ehefrau Nina und ich uns etwas in dieser Art in der Provence. Vielleicht nicht oft, aber ganz bestimmt. Hier und da mal einen Salad du chevre oder etwas Ähnliches. Mal sehen.
St. Martin lohnt sich, wenn man interessiert ist an Militärarchitektur. Niemand anderes als Vauban, dem ich ja gestern schon begegnet bin, hat die Wehranlagen um die Stadt herum entworfen. Sie sind so treffend zuzuschreiben, dass ich es beinahe schon wusste, bevor ich die Stadt letztlich betrat.
Ich sah mir den Hafen an, wanderte durch die Gassen, vorbei an Kleidungsgeschäften, Einrichtungshäusern à la Coté Sud (oder Ouest, wo wir ja noch sind) und anderem. Ich besuchte die Kathedrale, ein halb ruinöses Gebilde, wobei die Ruinen nicht mehr wirklich zur Kirche gehören. Wahrscheinlich war sie nur mal größer.
Ich begegnete dem Haus, in dem ein gewisser Ernest Cognac gewohnt hat. So so, hier kommt dieses Gesöff also her, das ich in meinem Leben noch nie getrunken habe. Ich glaube, es gibt auch ein kleines Museum.
Anderthalb Stunden verbrachte ich damit, diese kleine Stadt zu besichtigen. Dann war ich am Ende. Es ist wirklich eigenartig. Mir fehlt im Moment Energie. Und die will sich einfach nicht einstellen. Wahrscheinlich schlafe ich nicht sehr gut. Das käme noch hinzu.
In Gedanken war ich manchmal aber auch schon bei der Abreise morgen. Ich habe ein Ticket gebucht, in Richtung Saintes. Die Fahrt wird dauern, aber nur, weil ich die 30 Kilometer bis zum Gare radeln muss. Gegen halb drei werde ich dann die ruhige Stadt Saintes erreichen. Ich war schon mal da, von 24 Jahren. Mal sehen, woran ich mich noch erinnere. Ich habe sie jedenfalls als „interessant“ in meinem Gedächtnis verbucht. Keine Ahnung, ob ich romantisiere.
Ich radelte nur noch zum Campingplatz, wo ich mich tatsächlich ein wenig ausgeruht habe. Ich weiß aber nicht, ob es reicht. Es ist windig. Und sonnig. Heiß und kalt, fast zur gleichen Zeit.
Ich glaube, ich bin immer noch nicht im Camperleben angekommen. Vielleicht ging das alles auch etwas zu schnell.