Sonntag!
Ich muss gestehen, dass ich es so eingerichtet habe, mich an diesem Tag in einer ruhigen Stadt aufhalten zu können. Vergleichsweise ruhigen Stadt.
Ich schlafe leider etwas schlecht derzeit. Auf Campingplätzen gibt es eine Reihe von möglichen Störungen. Schnarchende Nachbarn, laute Musik Samstagnacht, Straßenverkehr. In dieser Nacht hatte ich nicht bedacht, dass ich das Zelt in der Nähe der Sanitäranlagen aufgeschlagen hatte, sodass ein grelles Licht die eine Seite des Zeltes beschien. Anfängerfehler. Ich werde heute also umziehen, um das zu minimieren.
Gegen sieben also stand ich in Ruhe auf. Ich wusste, dass ich die Stadt bequem besichtigen konnte. Viel Zeit würde ich nicht brauchen, also nicht Stunden bis zum Abend. Also bereitete ich mich in Ruhe vor. „Zeitdiebe“ wie das Internet gibt es hier nicht, witzigerweise auch kaum in der Stadt, aber dazu später mehr.
Um neun fuhr ich los, begann meinen Besuch hier auf dem sonntäglichen Markt. Immer wieder schön. Ich kaufte ein Baguette, fühlte mich aber nicht dazu imstande, am Käsestand zu bestellen. Wirklich, ich war durch den Wind, das Französische fiel mir schwer, noch schwerer als sonst. Jahrelanges Pauken von Vokabeln und Grammatik schien kaum etwas gebracht zu haben. Es war alles weg, weil ich den letzten Schritt, nämlich mich sehr lange in Frankreich aufzuhalten, nie gegangen bin. Selbst Schuld, ich unsoziales Wesen.
Meinen Besuch aber setzte ich in der Abbaye aux Dames fort, ein Nonnenkloster, das auch heute noch in Betrieb ist, in welcher Form weiß ich aber nicht. Ich hörte jedenfalls jemanden aus dem Fenster herausposaunen. Und zwar instrumental, sodass ich annehme, dass es etwas mit Musik zu tun hat. Das Tympanon am Eingang ist besonders sehenswert, ich entdeckte teilweise gewaltsame Szenen. Ob eine Schlacht dargestellt ist? Ich weiß es nicht. Jedenfalls streckten Männer mit Schwertern reihenweise Gegner nieder. Auch Drachen und andere Fabelwesen fand ich. Im Innern sind die Säulenverzierungen an den Kapitellen interessant, teilweise besonders kunstvoll.
Hier probierte ich auch als erstes, mich mit dem Internet zu verbinden. Vergeblich. Ich war „drin“, bekam aber keine Freigabe, brauchte sie aber, um mein Bahnticket für den nächsten Tag zu buchen.
Ich ließ es erst einmal sein, es war noch früh, also bestand kein Grund zur Eile.

Als Nächstes sah ich mir den Triumphbogen an der Charente an. Hier begann einst die römische Stadt. Und dort befand sich auch die alte römische Brücke, die erst im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Mitsamt (fast) dem Triumphbogen, den aber jemand gerettet hat. Banausen. 
Auch hier, an der Touristeninformation, kam ich nicht ins Netz. Aufregend.
Und blöd.
Also passierte ich die Brücke, setzte meinen Besuch hier im alten Teil der Stadt fort. Ich glaube, im Mittelalter befand sich auf dieser Seite das Stadtzentrum. Zu römischer sicher auch. Gestern hatte ich erfahren, dass Saintes tatsächlich auf der alten Route nach Santiago de Compostella liegt. Grandiose Kirchen gibt es hier, aber nur in Saint-Pierre fand einen Gottesdienst statt. Ich hatte bereits zwei Kirchen gesehen, neben Aux Dames auch eine zweite, direkt daneben, sodass ich es bei einem Besuch der malerischen Klostergärten beließ.
Ich sammelte hier Ideen für meinen eigenen Garten, besonders die Rankhilfen für Bohnen fand ich interessant. Die alten Steine und die helfende Hand des Gärtners bildeten hier ein perfektes Bild. Und in den Kreuzgängen ruhte ich mich für ein paar Augenblicke im Schatten aus. Es war bereits sehr warm. Vielleicht ein vorgezogener Sommer? Mal sehen.

Als Nächstes erklomm ich einen Hügel. Ich glaube, dass es sich um das antike Kapitol handelte. Jetzt aber fand ich ein geschlossenes Krankenhaus. An höchster Stelle der Stadt also, Prime Location. 2007 ist es geschlossen worden. Auch wenn es einige Bausünden gibt, so hat doch der alte Teil des Gebäudes durchaus seinen Charme. Es tat fast ein bisschen weh, es in diesem jämmerlichen Zustand zu sehen.
An den Wänden außerhalb haben die Menschen große Plakate angebracht, die einen Teil der Geschichte des Hauses erzählen. Menschen werden dargestellt, die hier einst gearbeitet haben. Und einen Teil ihrer Geschichte. Von hier aus hatte ich hervorragende Aussichten auf die Stadt. Als Sehenswürdigkeit aber spielt dieses Krankenhaus nur eine untergeordnete Rolle, obwohl ich froh war, es gefunden zu haben. Es heißt Logis du Gouverneur St. Louis. An den alten Wänden fand ich Graffiti, die teilweise schon sehr alt war. Einige stammten vom Beginn des 20. Jahrhunderts und waren durchaus kunstvoll. Manchmal findet man von normalen Menschen nach mehr als 100 Jahren nur noch solche Spuren. Alles andere hat die Zeit verdeckt. Ist ein interessanter Gedanke. Manche Menschen sind noch etwas länger im Bewusstsein der Welt, die meisten aber verschwinden nur wenige Jahre nach dem Tod. Nun, an Menschen mangelt es auf dieser Welt ja nicht, also gibt es natürlich immer wieder neue Geschichten, die sich allerdings gleichen und ähneln. Nur das Zeitgeschehen ist manchmal anders, die Menschen sind es nicht.

Jetzt aber wollte ich weiter. Eine Kirche musste ich noch besichtigen, Saint-Eutrope. Und natürlich das berühmte Amphitheater. Erst einmal aber musste ich durch einen alten Teil der Stadt. Ich weiß nicht, aus welchem Jahrhundert die Häuser stammten, wahrscheinlich handelt es sich um ein Sammelsourium, wie in der ganzen Stadt. Jeder hat mal etwas gebaut und manchmal auch wieder abgerissen und neu gemacht. Es wirkt zusammengewürfelt, was keine Kritik ist. Denn es wirkt dadurch lebendig, eine Stadt also, in denen die Menschen gelebt und Spuren hinterlassen haben. Die Basilika fand ich irgendwann. Man kann sie schlecht übersehen, denn der Kirchturm ragt meilenweit in den Himmel.
Es fällt mir schwer, diese Kirche zu beschreiben. In Erinnerung ist mir nur der Altar geblieben, weil er eine Reliquie des Heiligen enthält, nach dem die Kirche benannt ist. Seinetwegen ist dieser Ort Teil des Pilgerwegs nach Santiago. Ihn wollten die Besucher „sehen“. Heute aber war niemand da. Auch wenn ich manche Pilger auf dem Campingplatz getroffen habe.
Saint Eutrope liegt übrigens in der Gruft unter der Kirche, dessen Eingang nicht im Bauwerk selbst liegt, sondern außen am Turm. Ich fand eine gespenstische Atmosphäre vor, die Dunkelheit und Feuchtigkeit des Ortes wirkte auf mich ein. Der grob behauene Steinsarkophag bildet den Mittelpunkt in diesem romanischen Gemäuer.

Der Höhepunkt aber bestand mir noch bevor. Das Amphitheater. Daran konnte ich mich sogar noch erinnern. Ich fuhr ein paar Minuten einen Hügel hoch, dann bog ich ab und fuhr wieder herunter, befand mich am Westrand des antiken Bauwerks. Ich konnte nicht hinein, erst Stunden später würde es für Besucher öffnen. Aber wie es so ist mit antiken Bauwerken, sie sind auch aus ein paar Metern imposant. Also fotografierte ich über den Zaun hinüber. Am besagten Zaun befindet sich ebenfalls eine Outdoor-Galerie, die das Gebäude zu bestimmten Zeiten zeigt. Es war immer wieder Hintergrund von kulturellen Veranstaltungen, Opern oder Theaterstücken. Natürlich ist es mit der Zeit versandet, jetzt aber hat man es fast vollständig ausgebuddelt. Oder das, was davon übrig ist, denn das ist nicht sehr viel. Es handelt sich im Grunde nur um ein Gerippe eines Amphitheaters. Steinerne Reste schauen aus der bewachsenen Erde heraus. Die Steine? Findet man mit Sicherheit in den alten Gebäuden der Stadt. Theater waren immer auch Steinbrüche, das ist in Rom so. Und hier in Saintes ebenfalls.

Nach diesem Highlight ging ich durch die Gassen der Altstadt, bewunderte das eine oder andere Gebäude. An diesem Sonntag schienen die Bürgersteige hochgeklappt. Für mich aber reichte es aus. Im Jardins publics ruhte ich mich aus, bevor ich auf den Campingplatz zurückkehrte.
Ach ja, irgendwo fand ich unverhofft doch noch einen WiFi-Punkt. Plötzlich war ich verbunden. Und habe schnell meine Weiterreise gebucht.
Morgen geht es nach Angoulème. Ich glaube, niemand würde ernsthaft dorthin reisen. Ich aber habe Lust darauf. Abseits der Touristenrouten kann ich entdecken, wonach mir der Sinn steht. Zwei Wochen habe ich Zeit, von hier nach Lyon zu reisen. Die Strecke erscheint mir gar nicht mehr so unmöglich weit. Ist sie ja eigentlich auch nicht.
Ich war jedenfalls froh, nach 24 Jahren mal wieder in Saintes gewesen zu sein. Und habe nichts dagegen, wieder 24 Jahre zu warten, um wiederzukommen. Wenn ich denn bis dahin noch lebe. Denn selbstverständlich ist das nicht.