Ein Tag auf der Fähre.
Ich erwachte gegen sieben, stand aber erst um halb acht auf. Das war ein Fehler. Noch waren wir in Griechenland, aber als ich endlich den ersten Kaffee getrunken und mit meiner Yogamatte unter dem Arm in die wenig bevölkerten Gefilde der Fähre unterwegs war, legten wir in Igoumenitsa an. Bei der Hälfte meines Flows kamen die Gäste an Bord, ich hatte mir einen Ort direkt neben dem Eingang ausgesucht. Man mag mich für narzisstisch halten, weil ich in aller Öffentlichkeit auf einer nun immer voller werdenden Fähre an diesem Ort Yoga mache. Letztlich bin ich jedoch das genaue Gegenteil. Ich hasse es, wenn man mich beobachtet, hier aber hatte ich mir unbewusst einen Ort ausgesucht, an dem jeder genau das machen musste. Scharen an Menschen betraten die Fähre. Rückreiseverkehr. Es hatte mich schon gewundert, wie viele Leute das Boot schon in Patras betreten hatten, jetzt kamen noch mehr hinzu. Wahnsinn.

Als ich fertig war, lief ich also schnellstens zu meinem Platz zurück. Schon hatten die Neuankömmlinge sich Sessel und Plätze von Abwesenden unter den Nagel gerissen. Der Mensch ist schon eigenartig territorial. Wir, die bereits seit Patras an Bord waren, verteidigten ängstlich unsere kleinen Parzellen. Kaum jemand, der sich an diesen Orten aufhielt, wagte es aufzustehen. Die Neuen suchten Orte, wo sie sich breit machen konnten. Und das ist es letztlich, man steckt sich Parzellen ab. Wie ein Kleingärtner. Und ebenso spießig. Auch als wir abgelegt hatten, herrschte immer noch Unordnung und leiser Aufruhr. Dann, allmählich, hatte jeder seinen Platz gefunden. Die Unruhe ließ nach.

Auf meinem Gang durch die Eingeweide der Fähre erfasste ich die neue Situation. Innen war kaum noch Platz, überall lagen Matratzen und Decken, die den zeitlichen Besitz von Grund und Boden markierten. Ich bin auch so, also beschwere ich mich nicht. Es war viel voller als auf der Hinreise.
Die erste Nacht hatte ich hinter mir, nun folgt der Tag auf der Fähre. Schnell stellte ich fest, dass ich viel zu viele Lebensmittel aus Griechenland mitgenommen habe. So ein Blödsinn. Wie soll ich das alles essen? Und mitschleppen kann ich es kaum, dazu ist es auf der Weiterfahrt zu schwer. Na ja, es wird sich schon eine Lösung finden. Ich kann es auch einfach liegen lassen.
Manchmal fühlt es sich merkwürdig an, sich wieder auf die Rückreise zu befinden. Vielleicht kommt das Gefühl noch, aber in diesem Augenblick spüre ich es nicht. Es fühlt sich natürlich an. Die Rückreiseschleife kam ja auch nicht plötzlich. Ich habe noch zwei Wochen, bis ich in Prag und dann wieder in Berlin sein werde.
Ich finde, es reicht auch langsam. Vier Monate bin ich fast unterwegs. Ich glaube nicht, dass ich ständig auf Reisen sein könnte. Vor 12 Jahren konnte ich mir das noch eher vorstellen.

Morgen früh werde ich wieder in Venedig sein, von dort aus gleich weiterfahren. Nach Vicenza. Weil ich dort noch nie war. Ich finde, das ist konsequent.
Kaum verlasse ich Griechenland, sind aber die Alpträume wieder da. Wie auf Bestellung.
Die Zukunft konnte ich während der letzten vier Wochen verdrängen, zu intensiv ist die griechische Sonne, als dass dunkle Schatten eine Chance hätten.
Aber jetzt, auf der Fähre, kam alles wieder hoch. Die ungeklärte Situation mit meinen Geschwistern belastet mich wieder. Düstere Entscheidungen werfen ihre Schatten voraus. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass man im Grunde allein durch das Leben geht. Man trifft Menschen, manche davon Verwandte, aber auch hier kommen und gehen Menschen. Auch Geschwister. Nichts steht fest, und ich komme nach vielen Jahren wieder zu der Einsucht, dass ich mich damit abfinden muss, eventuell auch mal vollkommen allein dazustehen. Als schizoide Persönlichkeit liegt für mich darin sogar etwas Beruhigendes. Ich muss lachen bei dem Gedanken, dass eventuell einmal meine Nichten oder mein jetzt sechs Monate alter Neffe irgendwann mal Interesse an meinem Leben zeigen werden. Das wird nicht geschehen.
Es ist komplizierter, wenn es sich um tief verstrickte Angelegenheiten handelt, es ist wie der gordische Knoten. Entwirren kann man ihn nicht, nur durchschlagen.
Es ist gerade 14 Uhr. Noch viel Tag vor mir. Aber eigentlich auch nicht. Bis jetzt ist es fast kurzweilig. Mal sehen, ob es so bleibt.