Triest.
Ich habe es wirklich hierher geschafft. Es fühlt sich unwirklich an. So, als ob ich in eine andere Welt gereist wäre. Und irgendwie ist dieses Gefühl auch richtig.
Nach langer Fahrt gestern hatte ich nicht mehr die Kraft gehabt, noch in die Stadt zu fahren, stattdessen hatte ich es auf heute verschoben. Sonntag, normalerweise kein Tag für Sightseeingtouren, schien mir jetzt aber genau richtig. Was soll es? Ich bin jetzt hier, nachdem ich Jahrzehnte daran vorbeigefahren bin.

Die Fahrt in die Stadt war unkompliziert, auch wenn einer der Busse offensichtlich ausgefallen war. Trotzdem erreichte ich Triest innerhalb von 20 Minuten, frisch und ausgeruht, ohne lange Fußstrecke. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Der Bus hielt am Piazza N. Tommaseo, direkt davor lag die Molo Audace. Ich lief einfach darauf zu und weiter. Erst später las ich, dass man das genau so machen soll. Witzig. Ich hatte kein Konzept von der Stadt oder eine Ahnung davon. Zwei Kreuzfahrtschiffe lagen neben der Mole vor Anker, ich war etwas skeptisch. In der Ferne sah ich das, was ich für den Palast von Maximilian hielt. Es stimmt auch, Miramare liegt nur ein paar Kilometer weiter an der Küste in Richtung Venedig. Ein Traumschloss für einen Traumprinzen. Ich werde ihn jetzt nicht als Kaiser von Mexiko bezeichnen, das bekam ihm selbst nicht besonders gut.

Tatsächlich prägt das Meer erst einmal das Stadtbild, zumindest für mich.
Dann drehte ich mich um und war erstaunt. Ich stand praktisch auf einem Platz in Wien. Oder Prag. Diesen Eindruck hatte ich zumindest. Der Piazza Unita D’Italia wirkt habsburgisch. So wie übrigens weite Teile der Stadt. Gewaltige Prachtbauten, opulente Cafés, dem Platz fehlt nur eine Kathedrale von der Statur von San Marco, dann bräuchte er den Vergleich mit Venedigs Markenkern nicht zu scheuen. Oder ist es eher einer der vielen prächtigen Plätze in Wien? Eigentlich eher. Vielleicht konnte sich Triest hier nicht entscheiden.
Nach einem Besuch in der Touristenoffice hatte ich ein Konzept davon, wie ich diese Stadt besuchen könnte. Als Erstes führte mich mein Weg zum Amphitheater. Ja, das gibt es auch. Triest/Tragente ist von Kaiser Augustus gegründet worden, wie ich jetzt weiß. Eine komplette römische Stadt also. Die in weiten Teilen unter der moderneren liegen dürfte. Nachdem ich die erste größere Kirche ignoriert hatte, ich hatte in Ravenna nun wirklich genug Kirchen gesehen, fand ich eher zufällig einen römischen Bogen. Vielleicht ein Triumphbogen, wahrscheinlich aber eher der damalige Eingang zur Stadt. Immerhin ist er aus Marmor. Er ragt wie zufällig aus dem Boden hinaus, liegt natürlich tiefer als das heutige Straßenniveau. Auch ein Teil der römischen Straße existiert noch, ebenfalls weit unter dem heutigen Niveau. Anscheinend ist der Bogen teilweise in die modernen Häuser integriert. Warum auch nicht?

Ich lief weiter nach oben, erreichte den Piazza della Cattedrale. Zum Glück war Sonntag und natürlich Gottesdienst, also musste ich nicht hinein. Was mich ohnehin mehr interessierte, war der Glockenturm. Der wurde auf einem römischen Tempel errichtet, oder zumindest Teilen davon. Ein merkwürdiges Gebilde aus erodierten Säulen und korinthischen Kapitellen. Es war faszinierend, in diese Welt einzutauchen.
Von oben hatte ich einen schönen, wenn auch keinen opulenten Ausblick auf die Stadt, dazu ist der Turm einfach nicht hoch genug. Trotzdem war es ein Erlebnis.
Nach diesem Besuch flanierte ich weiter durch die Stadt. Ich weiß nicht, aber Triest kann sich nicht entscheiden, was es sein soll. Es wirkt wie eine Mischung aus allem. Architektur aus Wien, aber auch manchmal italienisch, dazu ab und zu römische Ruinen, die Straßenschilder aber sind teilweise auf slowenisch. Oder ist es Triester Dialekt? Manchmal sah ich alte Ladenschilder in deutscher Sprache. Nun, die Habsburger Vergangenheit ist nicht lange her. Aber doch schon über 100 Jahre. Auf mich wirkt es befreiend, dass sich eine Stadt so vielen Kulturkreisen geöffnet hat. Leider war es um die Mittagszeit doch recht voll, was eindeutig an den Kreuzfahrtschiffen lag. Ich denke, dass es leerer wird, sobald sie abgelegt haben. Triest wirkt auf mich nicht so, als ob die Stadt für einen ungebremsten Massentourismus bereit wäre. Aber ist das ein Ort jemals?

Nach einem einfachen Lunch begab ich mich übrigens ins Café San Marco, wo ich gerade sitze und schreibe, entgegen meiner Gewohnheit, das erst am Ende eines Tages zu tun. Es passt einfach so gut, in diesem „Wiener Caféhaus“ im Stil der Wiener Sezession dekoriert. Mit einem Buchladen im Anschluss, Leuten, die lesen und schreiben (gerade in diesem Moment). Diesem Mittelpunkt für Schriftsteller seit Jahrhunderten. Ob James Joyce auch hier war? Ganz sicher. Und Italo Svevo alias Ettore Schmitz. Beide muss ich mal lesen. Ulysses kenne ich nicht. Vom anderen Schriftsteller habe ich noch nicht einmal gehört. Frechheit.
Um diesen Tag abzurunden, werde ich noch in den Porto Vecchio gehen und ihn mir mal ansehen. Eine Industrieruine? Keine Ahnung, bald werde ich mehr wissen.
Triest gefällt mir und ich kann nicht genau sagen warum.
Die Stadt erscheint mir eine Mischung aus Vielem, allem und nichts, und noch viel mehr als das. Es ist österreichisch und auch wieder nicht. Es ist italienisch und auch wieder nicht. Triest befindet sich am letzten Ende Italiens, in einer winzigen Ecke jenseits des unwiderstehlichen Magneten Venedig. Und doch ist es irgendwie Mittelpunkt.

Es ist komisch, wie sehr ich mich hier von der ersten Minute an heimisch fühlen konnte. Es fing schon gestern an, mit der Aussicht von Opicina aus, witzigerweise direkt vor dem Campingplatz. Da ergießt sich diese Stadt vor einem, Istrien dahinter, geradeaus irgendwo Venedig, jedenfalls das Rest-Italien, das so anders ist als hier.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich so heimisch fühle. Sie muss sich nicht definieren. Etwas, das ich auch für mich als Person unmöglich finde. Sie kann sein, was sie sein will. Ohne Rechtfertigung. Ein schöner Zustand.
Nun, das ist natürlich nur der erste Eindruck. Aber der ist ja oft derjenige, auf den es ankommt.

Ich melde mich später nochmal, wenn ich den alten Hafen gesehen habe. Übrigens ohne des Ursus, den Riesenkran, Wahrzeichen der Stadt, der vor zehn Jahren vom Bora, dem jähzornigen Wind, ins Meer gekippt wurde. Er wird gerade restauriert, wie mir die Angestellte in der Touristenoffice mitteilte.
Aber auf den Hafen freue ich mich. Von der Mole habe ich ihn schon gesehen, ohne zu wissen, dass es sich um den Porto Vecchio handelt. Ganz schön verfallen. Mal sehen, was mich erwartet.

Glück gehabt.
Nach meinem köstlichen Aufenthalt im Café San Marco lief ich zum alten Hafen/Porto Vecchio. Schon von außen sah ich, dass es sich um gewaltige alte Lagerräume und Verwaltungsgebäudeeinheiten handelte. Alle verfallen, vor sich hin rostend, verwaist. Und eigentlich nicht zugänglich. Aber ich bemerkte auch, dass es einen Zugang geben musste, denn ein Teil des Geländes dient als Parkplatz. Ich lief und lief, am Bahnhof vorbei. Und tatsächlich fand ich einen Zugang. Das Wärterhaus war unbemannt. Also lief ich einfach weiter. Kurz darauf stand ich auf dem gewaltigen Gelände, inmitten der Lagerhallen, die sich wie an der Schnur entlanggezogen rechts und links von mir aufreihten. Es muss damals ein geschäftiger Hafen gewesen sein, mit Bahnlinien, Kränen, einer davon der sog. Ursus, der Bär. Dieser Kran ist vor zehn Jahren bei einem Sturm ins Meer gekippt. Er hat hier irgendwo gestanden.
Ich schaute in die Räume hinein, manche Fenster waren kaputt, anderswo standen Türen offen. Ich betrat aber die Gebäude nicht. Auch konnte ich die rostigen Säulenreihen bewundern, die die Überdachung hielten. Ich glaube nicht, dass diese Gebäude noch lange stehen werden. Zu baufällig, zu ungepflegt. Wie kann man so etwas nur derartig verkommen lassen? Wahrscheinlich aber ist der Zeitpunkt, an dem sich eine Renovierung lohnt, bereits überschritten. Denke ich mir. So also ist es nur ein riesiger Parkplatz.
Als ich wieder am Wärterhäuschen vorbeikam, hielt mich tatsächlich ein Wächter an. Es wäre verboten, hier einzudringen.
Es war kein boshaftes Gespräch. Denn wir beide wussten, dass es für Verbote nun wirklich zu spät war. Außerdem war kein Schaden entstanden. Wir redeten noch ein paar Minuten, aber der Wärter wusste auch nicht, ob das Gelände irgendwann einmal saniert werden wird. Oder alles abgerissen, was ich für wahrscheinlicher halte.

So also endete mein Tag, mit einem glücklichen Erfolg.
Im Grunde habe ich jetzt die Stadt soweit erst einmal kennengelernt. Mal sehen, was ich morgen unternehmen werde. Museen haben geschlossen, so weit ich das mitbekommen habe.
Und dabei fällt mir ein, dass ich vergessen habe zu erwähnen, dass ich heute bereits eines gesehen habe. Das archäologische, das nach dem deutschen Historiker Winkelmann benannt ist. Der Sachse ist hier Mitte des 19. Jahrhunderts ermordet worden. Für ein paar Goldmünzen. Er gilt als Begründer der Geschichtswissenschaften. Sein Grabmal befindet sich außerhalb des Museumsgebäudes, wobei ich nicht ganz verstanden habe, ob er dort noch liegt oder es sich nur um sein opulentes Grabdenkmal handelt. Jedenfalls ist er mit herrlichen antiken Skulpturen umgeben.
Zum Museum kommt man durch einen Park, in dem verstreut römische Grabstelen und Säulenreste liegen. Und anderes. Sockel, Kapitelle und anderes, das mir nicht mehr einfällt.
Das Museum ist ein Sammelsurium alten Schlages, so würde ich es bezeichnen. In mehreren Räumen auf jeweils drei Etagen ist alles zusammengetragen, was sich ausstellen ließ. Und das haufenweise. Es ist ein Museum, wie es vor 30 Jahren normal war. Stickig, warm, dunkel. Ich glaube, mir fielen nach zehn Minuten die Augen zu. Sicher Sauerstoffmangel. Dabei ist es interessant. Römische Skulpturen sind zu sehen, Alltagsgegenstände aus dieser Zeit, es gibt eine ägyptische Sammlung mit Mumien. Mehrere Räume in der zweiten Etage sind der griechischen Vasenmalerei gewidmet. Durch alle Epochen hindurch. Geometrischer Stil, schwarzfigurig, rotfigurig. Massenweise Vasen. Oft stehen sie hintereinander, sodass sie kaum zu sehen sind. Es ist unfassbar, was hier alles untergebracht ist. Oben dann wird es regionaler. Und auch ein bisschen interessanter. Der Karst, also das Gebiet, in dem ich praktisch gerade nächtige, ist seit Jahrtausenden besiedelt. Und es befinden sich hier Höhlen. Millionen. Ich übertreibe, aber nicht sehr. Jedenfalls gibt es aus der Bronze- und Eisenzeit eine ganze Reihe von Funden im Museum. Die Gegend muss vor Siedlungen nur gewimmelt haben.
An eine Höhle kann ich mich erinnern, die Höhle der Fliegen. Ich werde recherchieren, was es damit genau auf sich hatte. Denn hier oben war meine Konzentration bereits auf dem Nullpunkt. Es wurde draußen langsam heißer. Und drinnen ebenfalls. Wahrscheinlich müsste man um spätestens elf mit dem Umherwandern aufhören.
Das wird nicht passieren. Aber es sollte.

So, genug. Ein herrlicher Tag geht zu Ende. Man, bin ich froh, hier zu sein.
Und jetzt schaue ich nach, ob James Joyce auf Bookbeat vertreten ist.
Mal sehen.
Dostojewski ist schließlich auch da. Diese literarische Lücke ist ja peinlich.