Gestern also fuhr ich nach Nantes.
Wenn französische Eisenbahner nicht streiken, arbeiten ihre Bahnen verlässlich, diese Erfahrungen habe ich zumindest bis jetzt. Mal sehen, ob es so bleibt.
Jedenfalls war ich mal wieder viel zu früh am Bahnsteig. Mir macht das wenig aus, es ist im Grunde egal, wo ich warte. Die halbe Nacht hatte ich übrigens wachgelegen, die Fun Fair mit anschließendem Konzert keinen Kilometer entfernt hielt mich, bis vier Uhr morgens praktisch auf den Beinen. Selbst Ohrenstöpsel halfen wenig. Das ist Campingleben. Im Grunde passiert so etwas alle paar Wochen. Sich darüber zu ärgern, wäre sinnlos.
Um halb sieben war allerdings die Nacht zu Ende. Nicht schön, aber nicht zu ändern.
In Nantes traf ich letztlich gegen halb zwölf ein. Meine Freundin Laurence, die ich seit meinem Studium vor 24 Jahren hier kenne, erwartete mich bereits. Wir verfrachteten das Rad und Gepäck in den Touran, in dem schon ihr E-Rad lagerte. Diese Fracht zeigte die Grenzen des Lagerraums dieses KFZs. Schon lustig.
Von hier fuhren wir direkt nach Guérande, eine kleine Stadt nahe der bretonischen Küste (ja, es gehört zur Bretagne!). Es ist merkwürdig, wie sehr mich die letzten Tage allein schon geprägt haben. Auch an Gesellschaft muss man sich wieder gewöhnen, es fiel mir anfangs gar nicht leicht. Wie das erst am Ende dieser Reise sein wird?
Die Stadt jedenfalls war mir bislang auf meinen Reisen und Aufenthalten hier entgangen. Herrlich eingeschlossen von dicken Mauern besichtigte ich die historische Stadt, die ihren einstigen Reichtum der Salzgewinnung zu verdanken hatte. Fleur de Sel bester Qualität.
Wir genehmigten uns einen Gallettes, was man hier einfach machen muss, dann führte uns unser Weg zur Küste, wo wir die Fahrräder ausluden. Es war ebenso wie das Einladen ein gewaltiger Akt. Ein E-Bike wiegt fast 30 Kg. Das bringt mich, ehrlich gesagt, fast schon an meine Grenzen. Es wiegt praktisch halb so viel wie ich. Irgendwann aber hatten wir es geschafft.
An der Cote Sauvage dann, mit den zerschlissenen Felsen und dem an diesem Tag aufgewühlten Meer, fuhren wir in Richtung Le Croisic. Ich glaube, ich habe an diesem Tag selbst auf dem Rad mehr geredet als im letzten halben Jahr zusammen. Kein Wunder, dass ich heute heiser bin.

Die nächsten Tage verbrachte ich also mit meiner alten Freundin Laurence und ihrer Familie. Ehemann, zwei Kinder im Teenage-Alter. Und ich muss gestehen, dass ich froh bin, solch ein Leben nicht gewählt zu haben. Ohne es wirklich bewerten zu wollen, erschien es mir wie ein stetiges Logistik-Problem, immer musste irgendwer irgendwo sein, irgendwo irgendwann etwas gemacht werden, kurz, die Sache musste am Laufen gehalten werden. Familien werden das verstehen, aber so nah wie an diesem Wochenende war ich selten an einer Lebensweise wie dieser, also die Form der persönlichen Lebensplanung, die die meisten Menschen in Europa leben. Ich war fasziniert und erstaunt zugleich. Wie anstrengend das sein muss, will ich nicht wissen. Jahraus, jahrein.
Am gestrigen Sonntag fuhren wir drei Erwachsenen nach Poinic, einer kleinen Stadt am Meer. Erst an den Strand, der angenehm leer war und an dem wir picknicken konnten, dann in die Hafenstadt. Es war unheimlich viel los, halb Nantes und Umgebung schien auf den Beinen. Nebenher besichtigten wir eine kleine Motorbootmesse, wahrscheinlich 30 ausgestellte Boote. Unheimlich teuer, solch ein Hobby, was uns nicht davon abhielt, ein mögliches Leben an Bord eines solchen Gerätes eingehend zu diskutieren. So etwas macht Spaß.

Am Ende aber waren hier zu viele Leute, sodass wir irgendwann die Segel strichen.
Es ist an diesem Wochenende eine Menge geschehen, vieles aber werde ich nicht beschreiben, weil es zu persönlich ist. Gelernt habe ich jedenfalls sehr viel. Vielleicht rede ich nicht genug mit anderen Menschen, sodass mir deren Leben ein Geheimnis bleibt. Hier aber hatte ich einen interessanten Einblick, der mir auch Bewunderung abrang. So viele Leistungen in unserer Gesellschaft sind weder zu beziffern, noch sind sie in irgendeiner Form wertgeschätzt. Stattdessen aber ein Leben, wie ich es gerade führe, ein Taugenichts auf Reisen, der nichts anderes macht, als es sich gutgehen zu lassen, interessante Dinge zu sehen und ein paar Zeilen darüber zu verlieren. Ich muss mir manchmal nicht nur eingestehen, dass ich zu einem der privilegiertesten Menschen auf dieser Welt gehöre. Wenn ich das jemals vergessen sollte, soll mich sofort der Schlag treffen.
Nein, ich weiß um mein immenses Glück. Insgesamt übrigens. Vielleicht werde ich mich in Zukunft etwas mehr um Freundschaften kümmern, denn, wie ich jetzt erlebt habe, ist das etwas, das tatsächlich in meinem Leben fehlt.

Heute, an diesem Montag, im Zug nach La Rochelle, beginnt eine neue Reiseetappe. Ich verlasse sowohl das Tal der Loire, als auch den Norden, zumindest in gewisser Weise. Auch beginnt heute meine Reise nach Lyon, wo ich in 20 Tagen sein muss, um Ehefrau Nina zu treffen. Es ist viel Zeit. Und wenig zugleich. Jedenfalls gibt dieser Termin der Fahrt etwas mehr Struktur, was nicht schlecht ist.
Laurence hat mich übrigens darauf hingewiesen, dass Korsika ja auch ein mögliches Reiseziel nach dem gemeinsamen Urlaub sein kann. Interessant, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Warum eigentlich nicht? Irgendwie liegt das doch auf der Hand?
Aber das ist Zukunftsmusik, bis dahin sind es noch mehr als fünf Wochen. Erst einmal fahre ich nach La Rochelle, dann auf die Île de Re. Damit habe ich genug zu tun. Und dann werden wir sehen. Périgord? Limoge? Auvergne? Clermont-Ferrand? Im Grunde liebe ich diese Ungewissheit. Corona hat dafür gesorgt, dass ich diese Reise weniger verplant habe. Das hat auch enorm positive Aspekte, denn so wird alles etwas spontaner. Wir werden also sehen.

Für heute ist nicht mehr so viel geplant. Ich muss nachher zum Campingplatz, mich um ein paar Sachen kümmern, Campinggas kaufen, wenn ich das nicht kriege, wohl oder übel auf einen anderen Kocher umsteigen. Ärgerlich. Sehr ärgerlich. Aber so weit bin ich noch nicht.
Ab heute reise ich jedenfalls wieder allein. Auch das hat etwas Besonderes und Erleichterndes.