Ich kam heute Morgen nur schwer aus dem Bett.
Die letzten Tage waren anstrengend, also gab ich mich etwas der Faulheit hin. Ich hatte heute nur eine Tour geplant, bei der es nicht so viel ausmachte, wann ich ankam und wieder ging. Also stand ich erst gegen halb acht auf, machte alles in Ruhe fertig. Wäsche musste gewaschen werden, ansonsten hatte ich nicht so viel vor.
Gegen zehn machte ich mich dann auf den Weg, nachdem ich bei Lidl an der Kasse mal wieder miterleben durfte, wie viel Zeit sich Franzosen beim Einkaufen lassen. Die packen in aller Seelenruhe die Sachen in ihre Taschen, organisieren neu, kramen nach dem Geldbeutel, bevor sie ihre Einkäufe endlich bezahlen. In Deutschland wären die Verkäufer:innen wahrscheinlich schon vor Wut geplatzt.
So also fuhr ich recht spät los. Und hatte prompt Probleme, den Weg zu finden. So ist das manchmal in der Stadt, plötzlich braucht man für drei Kilometer eine Dreiviertelstunde. Als ich endlich den richtigen Radweg nach Villandry gefunden hatte, ging es dann sehr schnell. Für die noch verbleibenden 17 Kilometer brauchte ich nur etwas über eine Stunde. Außerdem war es eine schöne Tour, keine Steigungen, ein gemütliches Radeln, oft an der Cher entlang (den Fluss, den ich auf der Reise tatsächlich für die Loire gehalten hatte). Wundervoll.
Und plötzlich, fast wie aus dem Nichts, tauchte Villandry plötzlich auf.
Das Chateau schmiegte sich beinahe an einen nahen Hügel. Die eigentliche Attraktion hier ist der Garten, auf den ich mich auch beschränkte. Um Punkt 12 betrat ich das Gelände.
Und erinnerte mich an das erste Mal im Jahr 1998.
Ist das Leben nicht komisch? Ich war mit Kommilitonen hier, ein Italiener und zwei Spanierinnen. Keiner dieser Menschen ist heute noch Teil meines Lebens, aber damals waren sie da. Alle habe ich übrigens im Jahr 1998 oder in den Jahren darauf besucht, in Spanien, in Burgos und Cadiz, in Italien in Florenz. Aber seit über 20 Jahren habe ich keinen von ihnen mehr gesehen. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich musste in den letzten beiden Tagen an sie denken. Die Möglichkeit, sie zu kontaktieren, habe ich nicht mehr. Die Spuren sind erkaltet. Außerdem habe ich ihre Nachnamen nicht. Sonst würde ich ihnen jetzt bestimmt mitteilen, dass ich wieder da bin. In Villandry.

Der Garten ist derartig einzigartig, dass ich ihn mit nichts anderem vergleichen kann. Dutzende von Gärten habe ich besucht, überall auf der Welt, aber Villandry kennt keine Vergleiche. Im Grunde handelt es sich um einen gewaltigen Potager/Küchengarten. Aber nicht ein winziger, wie sonst. Es ist der Hauptbestandteil des Geländes. Und dazu kommt, dass er systematisch angelegt ist. Als Ziergarten nach Renaissancemuster. Schachbrettartig, ich schätze auf mindestens einem Quadratkilometer, wachsen hier die essbaren Pflanzen und blühen Zierblumen. Alles ist so angerichtet, dass sowohl die Fruchtfolge, als auch das Aussehen stimmt. Im Augenblick befanden sich viele Gemüsepflanzen hier. Mitten in den Beeten haben die Gärtner Rosen gesetzt. Ich nehme an, um die Schädlinge fernzuhalten. So sind auch die Blumen konzipiert, alles folgt nach biologischem Muster, um möglichst wenig Chemie einzusetzen.
Ich tat das, was man in einem solchen Garten macht: Ich schlenderte. Mehr tat ich die ganze Zeit nicht. Ich genoss das Farbenspiel, die angenehmen Gerüche, das gute Wetter, das mitspielte. In Gärten sammle ich immer nur Eindrücke, aber ein paar Zahlen möchte ich doch mal präsentieren, die ich aus der Broschüre habe: Über 1000 Linden stehen auf dem Gelände, die jedes Jahr beschnitten werden müssen. Alle Buchsbäume bringen es auf eine Gesamtlänge von 52 Km. Und die müssen natürlich ebenfalls in Form gehalten werden.
115.000 Gemüse- und Zierpflanzen werden jedes Jahr gepflanzt. Die Hälfte davon wird in den ziemlich kleinen Gewächshäusern hier vorgezogen. Ziemlich beeindruckend.
Natürlich besteht der Garten aus viel mehr als nur dem Küchengarten. Der Kräutergarten oberhalb interessierte mich naturgemäß am meisten. Ich baue selber viele Kräuter an, auch auf dem Balkon. Immer wieder konnte ich unter Pergolen und frisch sprießendem Wein entlanglaufen. Mehrere Gartenlandschaften wechseln sich ab. So gelangt man bei einer Wasserkaskade zu einem Wassergarten. Zwei Schwäne schwammen friedlich in einem künstlichen Becken. Hier wendete ich mich dann ich Richtung Wald, es gibt einen Pfad, der mich ein Stück hinein auf den Hügel führte. Von hier aus hat man hervorragende Aussichten auf die Ziergärten und den Küchengarten. Ziergärten gibt es auch, streng angeordnete Buchsbaumlandschaften und noch sehr zarte Blüten lassen sich von oben am besten besichtigen. Auch vom Belvedere aus, ein kleines Türmchen beim Chateau, das extra dafür errichtet wurde. Hier kann man den Garten in seiner ganzen Pracht bewundern.

Ich schlenderte weiter, entdeckte noch den Sonnengarten, eine relativ neue Bepflanzung. Und natürlich das Labyrinth aus Weißbuchen. Nicht schwer, den Mittelpunkt zu finden, aber das muss es ja auch nicht.
Dieser Garten befindet sich tatsächlich in einem Zustand, in dem er einst in der Renaissance ungefähr ausgesehen haben musste. Villabdry ist dabei das letzte Renaissanceschloss seiner Art. Im Laufe der Zeit änderten sich die Geschmäcker und der Garten wurde umgepflügt und in englischem Stil neu errichtet. Vor etwas mehr als 100 Jahren hat aber der damalige Besitzer nach eingehender Recherche den Renaissancegarten wieder errichtet. Sein Name: Joachim Carvallo. Eigentlich war er Mediziner und hatte eine glänzende Karriere vor sich. Aber er bevorzugte es, die Gärten zu restaurieren und widmete ihnen praktisch sein Leben. Ich war ihm sehr dankbar, aber wer weiß, was uns entgangen ist, einen solchen Wissenschaftler an die Hortikultur zu verlieren.

Nach ungefähr zwei Stunden hatte ich genug gesehen, genoss noch einen Kaffee im Outdoor-Café, bevor ich mich zur Rückfahrt entschloss.
Die war unspektakulär, weil ich den Weg nun kannte.
Eine Kleinigkeit noch: Ich habe Schwierigkeiten, Campinggas zu bekommen. Nirgends habe ich den für mich wichtigen Teil meiner Ausrüstung bislang gesehen. Das ist ungewöhnlich, sicher eine Folge des Krieges.
Wenn ich diese Form der Kartuschen nicht finde, muss ich umsatteln und mir einen anderen Kocher kaufen. Das ist unangenehm. Aber ich werde es wohl verkraften.
Morgen fahre ich nach Nantes, um eine alte Freundin zu besuchen. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber schreiben werde. Wahrscheinlich nur über die Dinge, die wir machen werden. Das, worüber wir reden, werde ich schön für mich behalten. Geht ja auch niemanden etwas an.
So, und jetzt muss ich meine Beine ein wenig schonen. Aber erst noch eine Yoga-Session. Danach habe ich Feierabend.